I did it! Ich habe es getan!
Nachrichtensendungen, News-Kanäle und Late-Night-Shows liefern uns tagein und tagaus markige Sprüche des fünfundvierzigsten POTUS (President of the United States). Auch seine «Twitter Tantrums» («Twitter Wutanfälle») sind legendär. Selbst seriöse Nachrichtensendungen wie die pbs-Newshour zitieren regelmässig sein Gezwitscher – und bauen manchmal einen Zensurstreifen ein, wenn der Präsident einen Kraftausdruck in sein Kurzstatement einbaut.
Aber wie steht es um die Vollversion? Nicht nur eine von den Medien kondensierte Version? Oder sollte ich schreiben «verfälschte Version»? Schliesslich verdrehen die Journalistinnen und Journalisten in den Augen des Präsidenten und seiner AnhängerInnen sowieso nur immer alles! «Fake news» und «Enemies of the People» sind zwei seiner populärsten Etiketten für die vierte Gewalt im Staat.
Ein Selbstversuch musste also her. Quellenkritik gehört schliesslich zum A und O eines Geschichtslehrers. Und was bietet sich dazu besser an, als eine ganze Rede, inklusive Kontextualisierung. Die Realisierung dieses Selbstversuchs ist aber – ganz unbesehen des Inhalts – eine ziemliche Herausforderung. Da ist zum einen die Länge. Der POTUS ist bekannt für ziemlich lange Ansprachen. Seine letzte State of the Union Adress (SOTU) vor dem 116. US-Kongress vom 5. Februar 2019 dauerte zweiundachtzig Minuten! Damit wurde er bezüglich Länge nur noch von Präsident Bill Clinton getoppt, der die Rangliste mit achtundachtzig Minuten anführt. Wahlkampfreden des Präsidenten – und wann ist nicht Wahlkampf – können locker über neunzig Minuten dauern. Nicht gerade ermutigend. Dazu kommt die Form seiner Reden. In Berichten wird bezüglich des Sprachniveaus (Wortschatz, Komplexität, Vielfalt) immer wieder kolportiert, dass sich der fünfundvierzigste Präsident etwa ähnlich ausdrückt wie ein Viertklässler.
Diese Erkenntnis mag einen dazu verleiten, die Analyse auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber Sprünge, verwirrende Sätze, Themen, die ineinander verschwimmen, usw. können eine Analyse auch ziemlich durcheinander bringen. Seine Rede zur Erklärung eines nationalen Notstandes (Motto: «Wir brauchen eine Mauer an der Grenze zu Mexiko gegen die illegale Einwanderung von Kriminellen») vom 15. Februar 2019 beispielsweise, wurde in der Monatszeitschrift The Atlantic als «Trump’s Bizarre, Rambling Announcement of a National Emergency» («Trumps bizarre und ausschweifende Ankündigung eines Nationalen Notstandes») betitelt. Betrachtet man den betreffenden Redetext, wird man vom Gefühl beschlichen, dass diese Charakterisierung nicht ganz abwegig ist.
Und so sass ich also am vorletzten Samstag vor dem Computer, draussen regnete es, und schaute mir die Rede des Präsidenten vor dem National Rifle Association – Institute for Legislative Action NRA-ILA Leadership Forum in Indianapolis / Indiana vom Freitag, 26. April 2019, an.
Kontext
Die NRA-ILA zählt rund fünf Millionen Mitglieder. Ihr Ziel ist, allen «gesetzestreuen US-Bürgern das Recht auf Erwerb, Besitz und Einsatz von Feuerwaffen» zu garantieren. Grundlage dafür ist ihre Interpretation des zweiten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten: «A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.» («Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.»). Wie dieser Satz aus dem Jahr 1791, als die Erinnerungen aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Krone noch frisch waren, zu verstehen ist, ist eine der bis heute am meisten diskutierten, juristischen Grundsatzfragen in den Vereinigten Staaten.
Zwischen der NRA-ILA und der Republikanischen Partei bestehen vielfältige ideologische, personelle und finanzielle Verflechtungen. Während der letzten allgemeinen Wahlen 2016 unterstützte die NRA-ILA die Republikaner und ihren Präsidentschaftskandidaten mit mehreren Millionen Dollar Wahlkampfspenden.
Der Auftritt eines Präsidenten an einem Anlass der NRA-ILA ist in diesem Sinne ein hochpolitisches Signal. Tritt neben dem Präsidenten auch noch der Vizepräsident mit einer gut zwanzigminütigen Rede vor die rund 10’000 KongressteilnehmerInnen, wird endgültig klar, dass es sich um mehr als um einen reinen Höflichkeitsbesuch handeln muss. Im Gegenteil. Die Präsenz der beiden höchsten Mitglieder der Exekutive ist ein willkommenes Zeichen der Unterstützung für die NRA-ILA, die momentan an mehreren Fronten unter Druck steht. Querelen in der Führungsetage, strafrechtliche Untersuchungen und eine stetig anwachsende Zustimmung zu schärferen Waffengesetzen – vor allem bei den jüngeren AmerikanerInnen – sorgen für Unruhe. Zieht man schliesslich noch in Betracht, dass nur ein knappes Drittel der republikanischen Wählerschaft strengere Waffengesetze befürwortet (gegenüber 87 % auf demokratischer Seite) liegt der Schluss nahe, dass es sich bei diesem Zusammentreffen zwischen dem fünfundvierzigsten Präsidenten und der NRA-ILA in Indianapolis um einen Mix aus Lobby-, Fundraising- und Wahlveranstaltung handeln muss. Hier kommt zusammen, was zusammengehört.
Wie dem auch sei. Um Viertel nach Zwölf, betrat der Präsident die Bühne, begleitet durch Applaus und den Country-Song «God Bless the USA» von Lee Greenwood aus dem Jahr 1984. Vor mir stand – ich hatte etwas gegüxelt – eine knapp sechzigminütige Rede. Machbar!
Zahlen und Fakten
Insgesamt zwanzig Minuten nutzte der Präsident, um auf die Thematik Waffen einzugehen. Dabei bezog er sich einerseits auf die «amerikanischen Werte» (Vaterlandsliebe, Flagge, Verfassung, Selbstverteidigung, Freiheit, Recht, Gesetzestreue, Waffe, Volk, Gründerväter, Gott) und andererseits auf die Geschichte des Amerikanischen Unabhängigkeitskampfes. Ebenfalls zur Waffen-Thematik gehörte der auf der Bühne mittels Unterschrift vollzogene Ausstieg der USA aus dem Vertrag über den Waffenhandel der Vereinten Nationen (ATT). Eine Überraschung, die er etwa dreissig Minuten nach Beginn publik machte – zur hörbar grossen Freude der Anwesenden..
Gut fünfzehn Minuten widmete er «jenen», welche er als «faule Äpfel», «Verschwörer», «Sumpf», «schändliche Lügner», «Spione» und «unehrenhafte», «korrupte» «Sozialisten» und «Linksextreme» bezeichnete. Deren Weigerung mit ihm «zusammenzuarbeiten», behindere ihn in seiner Absicht, dem amerikanischen Volk Freiheit, Meinungsäusserungsfreiheit, Unabhängigkeit, wirtschaftliche (Stichwort «Handelsüberschuss») und militärische Grösse zurückgeben zu können. Stattdessen würden «jene» (Demokratische Partei, «aktivistische Richter», Medien) die USA fremden Mächten, Migranten, und Kriminellen überlassen. Die an der Versammlung anwesenden Medienschaffenden wurden dementsprechend dreimal direkt durch den Präsidenten verbal angegriffen und von ihm im Saal durch Gesten identifiziert. Die Menge reagierte jeweils mit Buh-Rufen.
Rund zwölf Minuten nahmen so genannte Testimonials ein. Drei NRA-Mitglieder erzählten kurz vor dem Ende der Rede, wie sie dank ihren Waffen Verbrecher und Amokläufer stoppen und sich, ihre Familie und ihre Gemeinschaft schützen konnten (weil die Polizei nicht schneller dasein konnte). Applaus brach bei der Nennung ihrer Waffen (in zwei von drei Fällen halbautomatische Gewehre) und bei der Beschreibung der Schussabgaben aus.
Elf Minuten widmete er schliesslich weiteren rekordverdächtigen («Almost a hundred different records I’ve broken. Record high.») Erfolgen seiner Administration in Bereichen wie Wirtschaft, Sicherheit und Richterbesetzungen. Dabei konnte er es nicht immer lassen, darauf hinzuweisen, dass die Erfolge noch grösser wären, wenn er nicht von der Demokratischen Partei, «aktivistischen» Richtern und Medien ausgebremst würde. Aber auch seine vielgepriesene Mauer sei auf dem besten Weg. Im Bereich Richterbesetzungen stellte er sich in direkte Nachfolge zum ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten:
«In fact, next week, we will confirm our 100th federal judge. Nobody knows what that means. The percentage is incredible. Nobody knows what that means. And in the end, I expect to have the second-highest percentage of judges confirmed in the history of the United States — more than any other President, except one — I’ll never beat this one — percentage of judges approved. You know who the one is? Take a guess. George Washington. He gets 100 percent.»
Der Bericht des Sonderermittlers Robert Mueller zu den Eingriffen Russlands in die Präsidentschaftswahlen 2016 – laut dem Präsidenten in dieser Rede «ein versuchter Staatsstreich, den er zu verhindern wusste – ohne eine Waffe» – findet ebenfalls seinen Niederschlag in diesen elf Minuten.
Kurzum: weniger als die Hälfte der Redezeit des POTUS (gut zwanzig Minuten der knapp fünfzig Minuten Redeanteil des Präsidenten) war irgendwie der genuinen Thematik der Versammlung gewidmet. Dieser Teil kann auf Grund der Wortwahl und des Satzbaus auch als vorgängig verschriftlicht sowie mehr oder weniger abgelesen gewertet werden. Mehr oder weniger, weil auch in diesen Redeteilen immer wieder kurze Kommentare eingestreut sind. Gut sechsundzwanzig Minuten waren von seinen Erfolgen, dem Mueller-Report und seinen Angriffen auf die Demokratische Partei, die Medien, die Justiz sowie die Migranten geprägt. Kurze Aussagen mit eingängigen Signalworten (Bad apples, Fake News, Witchhunt, Hoax, Delusion, Swamp, Fraud, Criminals, Wall, Freedom, Freedom of Speech, Partiots usw.) wie man sie an seinen Wahlkampfauftritten dauernd hört. Das meiste davon schien aus dem Stegreif formuliert und aneinandergereiht beziehungsweise in die vorbereitete Rede – passend oder meist assoziativ – eingeflochten. Gerade in diesen Segmenten versuchte der Präsident auch mehrere Male, durch direkte Fragen (Isn’t it about time?, Isn’t that nice?, Can you believe that?) oder Kraftausdrücke (We’re throwing them the hell out!) hörbare Zustimmung durch das Publikum zu provozieren.
Fazit
Obwohl nicht geplant, haben sich bei diesem Selbstversuch die Merkmale gezeigt, die typisch für eine Rede des fünfundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sind. Tritt er für die State of the Union Adress vor den Kongress oder hält er eine TV-Ansprache aus seinem Amtsraum im Weissen Haus (Oval Office), scheint er sich möglichst an ein vorbereitetes Script zu halten. Etwas, was ihn offenbar manchmal ziemlich viel Beherrschung kostet. Hat er Auftritte vor einem ihm mehrheitlich gewogenen Publikum (oder ist er am Twittern) gerät er schnell in jenes Verhalten, das sich auch in seiner Rede vor der NRA-ILA manifestierte: dichotomische Botschaften («Wir sind die Guten bzw. ich bin der Gute» vs. «Die anderen sind die Bösen»), welche untereinander assoziativ verknüpft und mit Beispielen angereichert werden. Bis zu Reden in der Länge von neunzig und noch mehr Minuten. Der amtierende Präsident sucht damit vor allem die zustimmende Reaktion des jeweils anwesenden Publikums. Erhält er diese, scheint er (behavioristisch gesprochen) sie als positive Verstärkung seines Verhaltens aufzunehmen, das er dann noch weiter steigert durch weitere Beispiele für seine Leistungen und durch Attacken auf diejenigen, die sich noch nicht seiner Meinung gefügt haben.
Auch wenn nach Untersuchungen der Fact Checker der Washington Post siebzig Prozent der Aussagen in einer Wahlkampfrede des Präsidenten falsch, irreführend oder ohne konkrete Grundlage sind (N.B. nach der Fact Checker Statistik hat er letzte Woche die 10’000. Falschaussage oder Lüge in seiner Amtszeit publik gemacht) scheint dies seinen Erfolg bei seiner Wählerbasis (ca. 38 bis 48% der WählerInnen) nicht zu schmälern. Diese scheinen so von Make America Great Again (MAGA) und Keep America Great (Slogan für den Wahlkampf 2020) vereinnahmt zu sein, dass sie von solchen Statistiken unbeeindruckt bleiben. Im Gegenteil: ihr Weltbild ordnet solche Zeitungsartikel den Fake News zu. Die Welt ist damit für sie in Ordnung. Kompromisse – und damit Lösungen für aktuelle Probleme – werden auf Grund dieser auf ein bestimmtes Wählersegment ausgerichteten Rhetorik im politischen Tagesgeschäft immer unwahrscheinlicher. Der Respekt vor dem Amt des Präsidenten, der die Menschen einigen sollte, aber auch der Respekt vor den demokratischen Institutionen und rechtlichen Verfahren scheinen in dieser Güterabwägung eher sekundär zu sein. Worte dürfen in dieser wählerzentrierten Optik verletzen, solange sie Stimmen bringen. Die Taten, die diese Worte manchmal nach sich ziehen, werden folgerichtig kleingeredet.
Schlusspunkt
Seit der Rede des Präsidenten vor der NRA haben mindestens zwei Attacken mit Schusswaffen stattgefunden, welche auch jenseits des Atlantiks für Aufmerksamkeit sorgten. Am 27. April [!] überfiel ein Bewaffneter in Kalifornien eine Synagoge mit dem Ziel, möglichst viele der GottesdienstteilnehmerInnen zu erschiessen. Bilanz: eine tote Frau und drei Verletzte, darunter ein Kind und der Rabbiner der Gemeinde. Am 30. April hat ein Täter an der University of North Carolina Charlotte zwei Studierende erschossen und vier weitere verletzt. Seit der Rede vor der NRA-ILA in Indianapolis vor zehn Tagen sind nach Statistiken von Mass Shooting Tracker insgesamt siebzehn Personen bei Massenschiessereien getötet und über siebzig Personen verletzt worden. Massenschiessereien waren kein Thema in der Rede des POTUS vor der NRA. Das wäre schlecht angekommen. Seine Haltung zum Second Amendment ändert sich aber auch dann nicht, wenn er zu einer Massenschiesserei Stellung nehmen soll. Eine Verbindung zwischen Waffengesetzen und Waffengewalt wird ausgeklammert. Stattdessen gilt: «We know that the only way to stop a bad guy with a gun is a good guy with a gun.» («Wir wissen, dass die einizge Möglichkeit einen bösen Jungen mit einer Waffe zu stoppen ein guter Junge mit einer Waffe ist.»; Rede des Präsidenten vor der NRA-ILA, 26. April 2019). Der Päsident empfiehlt deshalb den Gliedstaaten, Lehrpersonen und Schulpersonal mit Schusswaffen auszurüsten. Gotteshäuser sollen durch Waffenträger bewacht werden. High-School-SchülerInnen lernen Blutungen zu versorgen. Primarschulkinder üben in lockdown drills, wie man sich zu verstecken und ruhig zu verhalten hat.
Laut der pbs-Newshour vom 14. Dezember 2018 sind in den USA im letzten Jahr beinahe 40’000 Menschen durch Schusswaffen getötet worden. Dies ist die höchste Zahl an Opfern seit beinahe vierzig Jahren. Zum Vergleich: der Vietnamkrieg kostete das Leben von 58’000 amerikanischen Soldaten. Eine nach dem Amoklauf eines Jugendlichen in der Sandy Hook Elementary School (14. Dezember 2012; zwanzig Primarschulkinder und sechs Erwachsene wurden getötet) eingerichtete Internetseite listet seit diesem tragischen Ereignis in Newtown / Connecticut 2040 weitere Massenschiessereien in den USA auf.
Kurz vor Weihnachten war ich auf einem meiner Spaziergänge durch Boston auf dieses Plakat gestossen.
Gesetze, eine respektvolle Sprache, Mitgefühl, Gewaltprävention. Faktoren, die zu weniger Gewalt beitragen könnten.