Hexenjagd

Am vergangenen Wochenende nutzten wir die immer milder werdenden Temperaturen, um unsere weitere Umgebung etwas zu erkunden. Schon seit längerer Zeit wollten wir einmal nach Salem fahren, einer Kleinstadt, die etwa dreissig Kilometer von Cambridge entfernt an der Atlantikküste liegt. In unserem Reiseführer wird das Städtchen folgendermassen charakterisiert:

«Salem. Der Name dieses Städtchens allein weckt schon allerlei Gedanken über Hexen und Hexerei. Die berühmten Hexenprozesse von Salem von 1692 sind in das nationale Gedächtnis eingebrannt und Halloween (31. Oktober) ist der grösste Feiertag in dieser Stadt.» (Lonely Planet. New England, Melbourne / Oakland / London / Paris 2002, p. 175)

Nicht, dass uns das nicht schon bekannt gewesen wäre. Das Theaterstück The Crucible (dt. Die Hexenjagd) des us-amerikanischen Autors Arthur Miller (1915-2005) aus dem Jahr 1953, verankerte den Namen der kleinen Hafenstadt nördlich von Boston auch im kollektiven Gedächtnis vieler Schülerinnen und Schüler in der Schweiz. Dem Englischunterricht sei es gedankt. Etliche Filme und eine Fernsehserie liessen sich ebenfalls von den Ereignissen von 1692 und 1693 inspirieren. Und Salem Salberhagen aus der Fernsehserie «Sabrina – Total verhext!» brachte mich – ich bekenne mich schuldig! – in den 1990-er Jahren, öfters zum Grinsen. Die wahnwitzigen Welteroberungsfantasien des zu einem sprechenden schwarzen Kater verwandelten Hexenmeisters boten manchmal genau die Abwechslung, die man in einer Lernpause im Studium brauchte. Kurzum: Salem steht für dunkle Machenschaften, Magie, das Böse. Ein ideales «must-see» auf meiner «Bucket List»!

Und wer das alles nicht wusste, wird es spätestens dann merken, wenn er oder sie einmal die Hauptstrasse, die Essex Street, rauf- und runtergelaufen ist. Überall Buchantiquariate, Läden mit Kräutern und geheimnisvollen Essenzen, Kristallen, Figürchen. Hexenbesen werden feilgehalten. Ein Reisebüro mit dem Namen «Hocus Pocus Tours» bietet seine Dienste an.

 

Ein ziemlich augenzwinkernder Umgang mit dem historischen Erbe. Strassenszenen aus Salem / Massachusetts [Quelle: Fs, 7. April 2019]

 

Und nicht nur das! Selbst die lokalen Gesetzeshüter kokettieren mit der düsteren Vergangenheit der 1626 gegründeten Ortschaft.

Abzeichen der Gemeindepolizei von Salem [Quelle: https://jezebel.com/searching-for-the-dead-in-witch-city-a-weekend-in-sale-1651378557, 13. April 2019]

Geschichts- und kulturbeflissen besuchten wir als erstes das «Salem Witch Museum». Mittels einer dramatischen Inszenierung im Hauptraum des kirchenähnlichen Gebäudes wurde man über den Verlauf und die Tragweite der Hexenprozesse von 1692/1693 ins Bild gesetzt.

 

Szenen aus dem Figurenkabinett im «Salem Witch Museum». Oben: Rebecca Nurse (1621-1692), eine angesehene Frau, gerät in den Strudel der Hexenjagd und wird wegen der «Tötung von sieben Babies durch ihre Geisteskraft» am 19. Juli 1692 gehängt. Zwei ihrer Schwestern wurden ebenfalls angeklagt, eine wurde auch hingerichtet [Quellen: wikipedia, https://mobilerving.com/the-buzz-articles/destinations/most-visited-museum-in-salem-massachusetts, 13. April 2019] Unten: Hinrichtungsszene [Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=m8gkKXCrUYA, 13. April 2019]

 

Im zweiten Teil der Ausstellung wurde mittels dreier Stationen die Geschichte der Hexen thematisiert. Neben die heilenden Frauen traten die böse Hexe und die modernen New Age-Hexen. Dass die Hexenvorstellungen in einer Gesellschaft auch immer von den gerade herrschenden gesellschaftlichen Umständen beeinflusst wurden, zeigte der junge Ausstellungsführer unserer Gruppe mittels eines Zeitstrahls – auf dem übrigens auch die Schweiz Erwähnng fand: 1782 wurde mit Anna Göldi in Glarus wohl die letzte Frau in Europa wegen Hexerei hingerichtet.

In Salem wurden auf Grund der Hexenprozesse schliesslich zwanzig Menschen hingerichtet. Fünf weitere starben in der Haft. Mehr als 200 Menschen aus der Region zwischen Boston und Salem wurden im Laufe der Hexenprozesse angeklagt, vernommen und zum Teil gefoltert. Auch daran wurde in der Ausstellung erinnert.

Am Ende der Ausstellung stand auf einer Wand schliesslich eine interessante Formel: Angst plus Auslöser gleich Sündenbock.

 

Postkarte vom letzten Ausstellungsteil im «Salem Witch Museum».

 

Natürlich haben solche Formeln etwas vereinfachendes und gleichzeitig überzeugendes an sich. «Menschen funktionieren etwas vielschichtiger,» schiesst es mir durch den Kopf. Dennoch. Es ist kein Zufall, dass Arthur Miller sein Stück ausgerechnet zur Zeit des Kalten Krieges verfasste, als die USA immer stärker die Konkurrenz der zweiten Supermacht zu spüren bekamen. Die Angst vor der Sowjetunion ging um. Der republikanische Senator Joseph McCarthy witterte Verrat im eigenen Land und veranstaltete mit seinen Komitees eine Jagd auf «unamerikanische Umtriebe». Menschen wurden denunziert und in öffentlichen Hearings blossgestellt. «Schwarze Listen» und Berufsverbote machten die Runde. Angst, Hysterie, Misstrauen breiteten sich aus. Millers Stück klagte anhand eines vordergründig historischen Stoffes genau diese Hysterie an, die hinter allem und jedem immer das Böse sah und nach Sündenböcken suchte, um wieder Ruhe zu finden.

Auch die anderen Beispiele unter der Formel hatten durchaus etwas für sich. Und dann stand da noch diese Frage, die die Besucherinnen und Besucher zum Grübeln bringen wollte:

Gibt es auch heute noch Hexenjagden? Sagen Sie uns Ihre Meinung!

Die Frage hatte es in sich. Statt einfach die Sensationslust, die wohl viele TouristInnen in dieses Museum treibt, zu befriedigen, versuchen die AusstellungsmacherInnen die BesucherInnen zum Nachdenken anzuregen. Nachdenken über Angst, Angstmacherei, Massenhysterie und Sündenböcke. Ein ziemlich subversives und ziemlich politisches Unterfangen.

«Die berühmten Hexenprozesse von Salem von 1692 sind in das nationale Gedächtnis eingebrannt.» Zumindest der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika scheint ein leuchtendes Beispiel für diese These des Lonely Planet zu sein. Der «Tweeter-in-Chief» wurde in den letzten zwei Jahren nicht müde, sich immer wieder als Opfer einer «Witch Hunt» zu verkaufen. Nun, da diese «Hexenjagd» aus der Sicht des Präsidenten «belegt», dass er «von allem Verdacht», mit russischen Regierungskreisen zusammengearbeitet und die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden in ihrer Arbeit behindert zu haben «umfassend freigesprochen» ist, dringt sein Vergeltungsbedürfnis durch. Der als «Hexenjäger» diffamierte Sonderermittler mutiert flux zum unfehlbaren Absolutionserteiler. Mit diesem «Freispruch» im Rücken müssen die «dunklen Kräfte» nun umso mehr bekämpft werden, die Amerika daran hindern, «wieder gross zu werden».

Die «Witch Hunt» geht weiter. Ängste müssen bewirtschaftet werden, wenn man Macht behalten will. Diese Lehre scheint von globaler Relevanz zu sein. Die Formel aus dem Museum in Salem, einer Kleinstadt in Massachusetts mit etwa 43’000 EinwohnerInnen, hat es in sich. Und die Frage dazu auch.

 

 

 

 

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