Vergangenheit – eine Bürde

«No one can know a nation that far back, from its infancy, with or without baby teeth kept in a jar. But studying history is like that, looking into one face and seeing, behind it, another, face after face after face. „Know whence you came,“ [James] Baldwin told his nephew [1962]. The past is an inheritance, a gift and a burden. It can’t be shirked. You carry it everywhere. There’s nothing for it but to get to know it.»

[Lepore, Jill: These Truths. A History of the United States, New York / London: W. W. Norton & Co. 2018, p. XX (Introduction).]

 

«Dawnland». So lautete der Titel eines Dokumentarfilmes, der im Februar anlässlich des «Harvard Divinity School Film Festivals» gezeigt wurde. Der Titel bezieht sich auf die Wabanaki, eine Föderation von amerikanischen Ureinwohnern an der Nordostküste Amerikas (Massachusetts, New Hampshire, Vermont, Maine, New Brunswick, Québec). «Wabanaki» ist eine Selbstbezeichnung und bedeutet «die Menschen des Landes der Morgendämmerung (engl. Dawnland)». Inhalt dieses Filmes war die Arbeit der Maine Wabanaki-State Child Welfare Truth & Reconciliation Commission, welche von 2013 bis 2015 die Lage der Wabanaki-Gruppen untersuchte. Seit dem 19. Jahrhundert war es – vor allem nach dem «Abschluss» der so genannten «Indianerkriege» mit dem Massaker von Wounded Knee 1890 – gängige Praxis, dass man versuchte, die Kulturen der amerikanischen Ureinwohner auszulöschen. Die Absichten dahinter waren vielgestaltig. Es ging um Landraub, Philanthropie, Missionierung, Gleichmacherei im «melting pot» der amerikanischen Immigrationsgesellschaft. Gemeinsam war diesen, dass sie alle davon ausgingen, dass «Indianer» unzivilisiert seien.  Ein Mangel, den es zu beheben galt. Dazu gehörte, dass man getreu dem Motto «Töte den Indianer, rette den Menschen» neben der Unterdrückung unerwünschter Kulturpraktiken und der fortschreitenden Privatisierung des Reservatslandes die Kinder in Internatsschulen verfrachtete oder sie relativ schnell in – weisse – Pflegefamilien verlegte. Diese Praxis hat bis heute Aktualität. Der Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Maine hält fest, dass Kinder aus Wabanaki-Familien in den Jahren nach 2000 immer noch fünfmal häufiger Gefahr liefen, in eine Pflegefamilie zu kommen, als Kinder aus nichtindianischen Familien mit ähnlichem sozialen Hintergrund. Die – staatliche – Kommission spricht in diesem Sinne von einem kulturellen Genozid. Der Film zeigte, was die seit Generationen durch die staatliche Sozialhilfe praktizierte Fremdplatzierung an Wunden hinterlassen hat – individuell und kulturell. Mit Hilfe der Benennung der erlittenen Verletzungen, deren Veröffentlichung, aber auch mit Hilfe von Ritualen aus der Kultur der Indigenen versuchte die Kommission unter der Leitung des Secretary of State (Innenminister) von Maine, den Betroffenen zu helfen, Wunden zu heilen und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die Kamera ging manchmal nahe an das Geschehen, fing berührende Szenen an. Ein Satz, der auch im Trailer zu sehen ist, blieb mir besonders haften: «Während man im Zusammenhang von Wahrheits- und Versöhnungskommission von einer grossen Unruhe in der Gesellschaft (wie beispielsweise in Südafrika nach dem Ende der Apartheid) ausgeht, ist sich die Mehrheitsgesellschaft in diesem Fall über das begangene Unrecht gar nicht im Klaren.» Die Kommission erfüllte damit eine Scharnierfunktion zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Wabanaki. Es ging nicht um Kompensationszahlungen oder Berichte, sondern um das Sprechen, Bewusstmachen, Heilen, Ändern – und damit letztlich auch um eine Veränderung der amerikanischen Selbstwahrnehmung. Ein Prozess, der inzwischen auch weitere Kreise in anderen Staaten der USA zieht.

«How to Talk to Children about Race» hiess eine Veranstaltung der Cambridge Street Upper School (sechste bis achte Klasse). Eltern, Lehrpersonen, Schulleiter diskutierten einen Abend lang – äusserst angeregt – wie man mit Herkunft und Rassismus an der Schule umgehen soll. Nicht Repression stand im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie man den eigenen Unterricht, die eigenen Worte, die Wahl der Lektüre, der Bilder, der Themen so gestalten kann, dass Schule nicht ein Ort der Separation, sondern der Gleichheit und Inklusion ist. Dass dies auch in einem traditionellen Nordstaat wie Massachusetts ein Thema ist, mag vielleicht verwundern. Normalerweise verbindet man Segregation und Rassismus mit den Bundesstaaten im Süden der USA. Es ist aber nicht zu vergessen, dass in Boston noch 1974 dagegen protestiert wurde, dass Schülerinnen und Schüler aus dem mehrheitlich afroamerikanischen Quartier Roxbury mit Schulbussen nach South Boston gebracht wurden. Ein Quartier, das mehrheitlich von Weissen irischer Herkunft geprägt war. Diese Desegration durch Busing stiess auf auf erbitterten, teilweise gewaltsamen Widerstand der Menschen in Southie.

 

Afroamerikanische SchülerInnen besteigen einen Schulbus vor der «South Boston High School» am ersten Tag des gerichtlich verüfgten Busings (12. September 1974) [Quelle: WBUR, 19.3.2018]

Bis heute ist der latente Rassismus in der nach aussen hin liberalen Metropole Neuenglands ein vieldiskutiertes Thema geblieben, wie es auch eine Serie des «Boston Globe» von 2017 illustriert. Insofern hatte die Abendveranstaltung an unserer Quartierschule durchaus ihre Berechtigung. Ziel der Diskussionen war die Schaffung gleicher Chancen für alle Kinder – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sozialem Status.

«Harvard and Slavery». Das 1636 als Ausbildungsstätte für Theologen gegründete Kollegium verfügt heute über einen Weltruf in den unterschiedlichsten Disziplinen und lockt Studierende und Forschende aus der ganzen Welt an. Neben der Tatsache, dass Harvard auf dem Land der Indigenen gegründet wurde, ist die Geschichte der Universität auch mit der Praxis der Sklaverei verknüpft. Etliche Geldgeber und Mitglieder Harvards hatten ihren Wohlstand und ihre Position in der besseren Gesellschaft der Handelsstadt Boston der Sklavenarbeit auf Plantagen in der Karibik zu verdanken. Zucker und Molasse waren unter anderen Ressourcen die Grundlage für den Aufstieg Bostons. Zum Teil wurden in der Zeit vor der amerikanischen Unabhängigkeit (1776/1783) auch Afroamerikaner als Sklaven in noblen Häusern Cambridges gehalten. Seit etlichen Jahren untersuchen Studierende in den Geschichtswissenschaften diese Verknüpfungen und machen deren Spuren deutlich. In schriftlichen Quellen, in Museen, in Internetauftritten und mittels Gedenktafeln an Gebäuden des ehrwürdigen Harvard Square. An der Präsentation einiger Arbeiten im Februar beschränkten sich die Studierenden aber nicht nur auf die historische Forschung, sondern machten sich auch wiederholt Gedanken darüber, wie mit diesem Erbe umgegangen werden soll. Angeregt beteiligte sich auch das Publikum an der Diskussion um die Problematik, dass wichtige Spender (deren Namen heute noch an einzelnen Universitätsgebäuden prangen) mit Geld Wissenschaft und Forschung ermöglichten, das aus Sklavenarbeit stammte.

Geschichte ist eine Hinterlassenschaft, eine Bürde, wie die Harvard-Professorin Jill Lepore in ihrem Werk zur amerikanischen Geschichte schreibt. Schülerinnen und Schüler würden beim Lernen vor einer Prüfung wohl vor allem von einer Bürde sprechen. Politikerinnen und Politiker fürchten die Last der Geschichte wenn es um staatlich begangenes Unrecht geht: gegenüber Indigenen, gegenüber Afroamerikanern, gegenüber Homosexuellen – gegenüber Jenischen. In der Schweiz wittert man hinter der Frage, ob Alfred Eschers Leben und Reichtum auch mit Profit aus Sklavenarbeit verknüpft sei eine «Nestbeschmutzung». Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zum Apartheidsregime in Südafrika werden nicht gerne öffentlich diskutiert. Geschichte ist eine manchmal ziemlich unangenehme Bürde.

Geschichte ist eine Hinterlassenschaft, eine Bürde, aber eben auch ein Geschenk. Dabei geht es nicht nur um das immer wieder gerne zitierte «Lernen aus der Geschichte». Der Blick in die Vergangenheit und die Art und Weise, wie Menschen, Bildungseinrichtungen, Gemeinden, Gesellschaften, Staaten mit dieser Vergangenheit umgehen sagt auch einiges darüber aus, wer wir selbst sind und wohin wir wollen. All das ist Teil unserer Existenz, die unser Handeln prägt. Bewusste Negation oder Verharmlosung der dunklen Stellen in dieser Vergangenheit erschwert in diesem Sinne wohl eine selbstbewusste und reflektierte Existenz heute – und morgen.

«You carry it everywhere. There’s nothing for it but to get to know it.» [Jill Lepore op. cit.]

 

 

 

 

Vergangenheit – eine Bürde
Markiert in: