Schnee

Die Region von Boston ist dafür bekannt, dass Schnee durchaus zu den üblichen und verbreiteten Naturphänomenen im Winter gehört. So erwähnt einer unserer Reiseführer, dass es in «Neuengland im Winter reichlich Schnee gibt». Die Wetterstatistik weist für das aktuelle Jahrzehnt im Durchschnitt eine totale Schneehöhe von merklich über einem Meter auf. Einzig die Jahre 2012 und 2015 reissen aus dieser kleinen Statistik aus: 2012 fiel total nur 31 cm Schnee, 2015 dafür dann 276 cm. In der Regel fällt im Grossraum an etwas mehr als zehn Tagen pro Jahr eine Schneemenge von mehr als einem Inch (2.54 cm). Die grössten Schneemengen fallen im Januar und Februar an, im März nimmt diese Schneemenge ab und im April fällt nur noch selten Schnee.

Spätestens ab Ende November war Schnee für uns nicht nur eine theoretische oder statistische Angelegenheit. Ein paar Tage vor Thanksgiving fiel bei uns der erste Schnee. Für mich war das eher ungemütlich. Anlässlich des uramerikanischen Familienrituals (vgl. Blog zu Thanksgiving) hatten wir vor, für einige Tage in den Norden an den Lake Ontario zu fahren. In meinem Kopf tauchten Bilder von zugeschneiten amerikanischen Interstates auf, riesigen Lastwagen, die sich querstellen und so weiter und so fort. Für unsere  Fahrt packten wir dann ausreichend Proviant, Schneebesen und Schlafsäcke ein… für den Fall, dass wir irgendwie irgendwo stecken bleiben würden. Einige apokalyptische Schneebilder hatten wir dann zwar unterwegs, insgesamt kamen wir aber gut und ungehindert voran.

 

Blizzard auf der Autobahn (Symbolbild). Unschönere, verstörendere Szenen aus dem Internet erspare ich hier dem geneigten Leser, der geneigten Leserin [Quelle: NBC News, 5.3.2019]

 

In den Supermärkten gehören Salz und andere eisschmelzende Substanzen seit Dezember zum Angebot. In den Eisenwarenhandlungen sind Schaufeln in allen Variationen zu finden. Die MBTA versichert auf Plakaten, dass sie auf den Winter vorbereitet sei. Anfangs Dezember rief uns die Stadt Camrbidge mittels einer Broschüre nochmals unsere winterlichen Pflichten als temporäre Hausbesitzer in Erinnerung.

 

Ausschnitt aus der Wegleitung der Stadt Cambridge [Quelle: City of Cambridge – Snow Center, 5.3.2019]

Zudem machte die Stadt auf die verschiedenen Alarmkanäle (Internet, Smartphone, Radio, Twitter, Facebook) und unterschiedliche Risiken (ältere oder behinderte Menschen, Obdachlose, Parkverbot für Autofahrer, Stromausfall, Lebensmittelengpässe) aufmerksam. Selbst die Autofahrer wurden um Verständnis dafür gebeten, dass ihre verzeifelten Ausgrabungsaktionen plötzlich zunichte gemacht werden könnten:

«Please don’t take it personally if plows push snow back into your driveway or parked car. This may be unavoidable as we work to keep streets passable during all stages of a storm.» [Quelle: City View, Winter 2018-19)

Die öffentlichen Salzdepots in den Neighborhoods wurden aufgefüllt. Und in persönlichen Gesprächen war immer mal wieder von den harten Wintern die Rede. Schon im letzten Sommer, als wir unsere Tochter für die öffentliche Schule anmeldeten wies der Mann am Schalter darauf hin, dass Cambridge selten Schulausfälle wegen Schnee habe – im Unterschied zu den umliegenden Schulbezirken von Somerville und Boston. Erst auf meinen Spaziergängen entdeckte ich, dass dies nicht ausschliesslich an der besonders effizienten Schneeräumung in Cambridge liegen musste. Eine weniger abwechslungsreiche Topographie mag wohl auch dazu beitragen, dass Schulkinder in Cambridge längere Sommerferien haben. Schulfreie Tage im Winter werden nämlich zu Beginn der Sommerferien kompensiert. Item: Als Schweizer mit einigen Jährchen auf dem Buckel ist man ja nicht unbedingt unerprobt in Sachen Schnee und so warteten wir ungeduldig auf unseren ersten grossen Schneesturm.

Den ersten grösseren im Januar verpassten wir, weil wir in New York City unterwegs waren. Hin- und Rückreise mit der Bahn übrigens. Mit den Folgen aber kämpften wir als wir in unser Heim zurückkehrten und die Gartentüre sich nicht öffnen liess: sie war von Innen mit vereistem Schnee blockiert. Nur mit einer Räuberleiter konnten wir uns Zugang zu unserem Garten und zu einer Schneeschaufel verschaffen. Und – wie es der Name schon sagt – hatten wir dabei stets die Angst im Nacken, dass uns jäh eine Polizeistreife bei diesem Unterfangen stoppen könnte. Wir schafften es.

Seither schneite es ab und zu ein bisschen. Die Temperaturen rutschten manchmal weit in den Minusbereich (Celsius), manchmal stiegen sie auch über zehn Grad plus. Mehrheitlich spürte man die Jahreszeit eher an den tiefen Temperaturen denn an den verschneiten Strassen.

 

Einige Aufnahmen von unserem Hauseingang. Der geneigte Leser, die geneigte Leserin beachte die Effizienz der haushalteigenen Schneeräumung. Das Bild vom 12. Februar entstand bei Schulschluss der benachbarten Kennedy-Longfellow School, das Bild vom 3. März an der Dorchester Bay im Süden von Boston.

 

Der «Boston Globe» machte sich immer mal wieder Gedanken darüber, wann der Winter endlich noch käme. Er brachte damit vermutlich auch die Erschütterung der kollektiven Bostoner Seele zum Ausdruck. Boston ohne grössere Schneestürme? Immerhin könnten diese Daten Stoff für die Diskussion um die Klimaerwärmung liefern. Und das wiederum würde wieder einmal den einzigen Klimasachverständigen im Weissen Haus Lügen strafen. Ein Gedanke, der wohl vielen, die dem Schnee nachtrauerten wenigstens ein bisschen Trost spendete. Aber lassen wir diesen politischen Seitenhieb. Den meisten Schnee hatten wir während unserer Skiferien Mitte Februar in Vermont gesehen.

Und dann dies:

Screenshot «The Boston Globe» Mobile-App, 3. März 2019

 

Und was sich auf der Internetseite des Bostoner Lokalblattes für die Stadt Boston ankündigte, bewahrheitete sich sehr bald schon auch für Cambridge: Schulfrei.

 

Screenshot von der Facebook-Seite der Kennedy-Longfellow Schule, 3. März 2019

 

Im Radio und in Internetportalen wurde die Liste derjenigen Schulen, die ihren Schülerinnen und Schülern einen freien Schultag bescherten immer länger. Der einen Freud‘ ist des anderen Leid. Was tun mit den von der Schule befreiten Kindern? In unserer Situation war das im Unterschied zu berufstätigen Eltern kein grösseres Problem. Na ja. Fast keines, aber auch dafür hatte der «Globe» eine Antwort aus dem Zeitungsarchiv:

 

Screenshot «The Boston Globe» Mobile-App, 4. März 2019

 

Wir legten uns schlafen. Erwartungsfroh. Zufrieden, dass man nochmals ausschlafen kann. Zweifelnd, ob die Schulbehörden den Kindern nicht einfach bei der letzten Gelegenheit einen Freitag bescheren wollten. Und immer wieder aufgeschreckt durch gelbe Signallampen und rumpelnde Geräusche, welche uns versicherten, dass die Stadtangestellten von Cambridge ihre effizienten Schneebekämpfungsarbeiten vorantrieben.

 

Blick auf die Strasse vor unserem Haus (unten)  und die obligate Aufnahme von unserem Hauseingang – vor der effizienten Räumung des ziemlich feuchten, schweren Schnees (oben)

 

Und so ordnete ich mich am Morgen nach einer Tasse Tee in die Reihe meiner Nachbarinnen und Nachbarn ein und stellte wieder eine Verbindung zur Aussenwelt her. Gerüstet mit entsprechende Ratschlägen, natürlich aus der Zeitung und mit den Anweisungen der Stadt Cambridge im Hinterkopf («drei Fuss breit, bis auf den Asphalt»…).

Schaufeltipps, Screenshot «The Boston Globe» Online, 4. März 2019

 

Den Rest des Vormittages verbrachten wir dann im Park. Bepackt mit Schlitten, welche uns unsere Vermieter überlassen hatten, bestiegen wir die «Red Line», spazierten durch verschneite Strassen wo emsig geschaufelt und gefräst wurde und erklommen nach Waten durch knietiefen Schnee einen Hügel. Ein Kinderfest.

Schlitteln im Danehy Park im Norden von Cambridge. Man beachte links die Vorbereitungen für den Weitflugwettbewerb der High School-SchülerInnen, 4. März 2019

 

Mit allen möglichen Gefährten (Surfhilfe, Luftmatraze, Bob, Snowboard und vieles mehr) wurde der Hügel langsam aber sicher zu einer veritablen Raserpiste. So verschieden die Rutschhilfen waren, so einheitlich waren zwei Ziele. Erstens: bis an die Grenzen gehen punkto Waghalsigkeit (vorwärts, rückwärts, rücklings, bäuchlings, zu mehrt, stehend…). Und dabei zweitens immer den zugefrorenen Teich vermeiden, der am Ende der Piste lauerte. Mit fortgeschrittener Stunde traten dann auch die High School-SchülerInnen auf den Plan (Jugendliche haben bekanntlich ein grösseres Schlafbedürfnis am Morgen als Primarschulkinder) und toppten die Aktivitäten mit Gruppenrutschen und halbsbrecherischen Schanzenwettbewerben.

Müde und zufrieden machten wir uns schliesslich am frühen Nachmittag auf den Heimweg. Wir kletterten über Schneemaden, vermieden Matschpfützen am Strassenrand und bestaunten die aufgetürmten Schneemassen, die bereits auf dem Weg zur effizienten Entsorgung waren – zumindest auf den grossen Strassen. In unserer Quartierstrasse beobachteten wir dann noch ein letztes – zwar offiziell verbotenes, aber beliebtes – Winterphänomen:

Parkplatzreservation in winterlichen Zeiten, 4. März 2019

 

Nach der erfolgreichen und effizienten Ausgrabung des eigenen vierrädrigen Untersatzes ist man schliesslich nicht mehr unbedingt gewillt, den im Schweisse seines Angesichts (und leider oft mit laufendem Motor) freigeschaufelten Platz so mir nichts dir nichts aufzugeben!

Am Abend beim Raclette (das gibt es hier! Wir lieben den einheimischen Käse aus Reading, Vermont) begann das sinnieren. Der Wintersturm mit unterrichtsfreiem Tag ist Geschichte. Der Schnee auf den Dächern, Strassen und in den Hinterhöfen wird uns noch etwas begleiten. War’s das? Die Statistik sagt ja. Wir werden sehen.

 

 

 

 

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