Statt einer «blauen Welle» war es am Ende ein «blaues Kräuseln auf der Wasseroberfläche». Die Blauen, die Demokratische Partei, konnten sich bei den Zwischenwahlen am 6. November 2018 zwar die Mehrheit im Repräsentantenhaus holen. Im Senat bauten jedoch die Roten (Republikanische Partei) ihre knappe Mehrheit weiter aus (Heidi Heitkamp aus North Dakota war eine dieser demokratischen Senatorinnen, welche ihr Mandat an einen Republikaner abtreten musste). Insgesamt blieben die Erfolge unter den vorgängig gemachten Prognosen. Donald Trump musste also nicht vor einem blauen Tsunami flüchten. Seinem Handeln, jenseits der «trumpistischen» Rhetorik sind aber durch den grössten Sitzverlust der Republikaner seit der Watergate-Affäre (die 1974 zum Rücktritt des republikanischen Präsident Nixon führte) etwas engere Grenzen gesetzt.
Diese Wahlen kehren zwar das bisherige Machtgefüge nicht vollständig um, sie machen aber Geschichte: Im Repräsentantenhaus werden so viele Frauen Plätze einnehmen, wie noch nie zuvor (101 von 435, d.h. 23 Prozent; Schweiz zur Zeit 33 Prozent). Zwei muslimische Frauen (Rashida Tlaib, mit palästinensichen Wurzeln; Ilhan Omar, aus Somalia geflüchtet) werden zum ersten Mal darunter sein, ebenso zwei weibliche Native Americans (Sharice Davids, Winnebago/Ho-Chunk; Deb Haaland, Laguna/Pueblo). Auch das jüngste Mitglied des «Hauses» ist eine Frau (die 29-jährige Alexandria Ocasio-Cortez aus New York). Und «mein» Staat Massachusetts schickt mit Ayanna Pressley zum ersten Mal eine Afroamerikanerin auf den Capitol Hill nach Washington D.C..
Allerdings stehen noch nicht alle Wahlresultate fest. Der Bundesstaat Georgia hat für die Wahlen zum Gouverneur bis jetzt noch kein rechtsgültiges Wahlresultat bekanntgegeben. Dies obwohl alle Wahlbezirke (Counties) ausgezählt sind. Bei einer Wahlbeteiligung von über sechzig Prozent kommt der republikanische Kandidat Brian Kemp (*1963) auf 50,33 Prozent, die demokratische Kandidatin Stacey Abrams (*1973) auf 48,72 Prozent der Wählerstimmen. Der Kandidat der Libertarian Party erreicht nach dem vorläufigen Endergebnis 0,95 Prozent. Eigentlich ein klares, wenn auch ein knappes Ergebnis. Kemp führt im stramm republikanischen Georgia mit knapp 63’000 Stimmen Vorsprung gegenüber der Afroamerikanerin Abrams.
Die Verhältnisse sind aber nur vordergründig klar. Die demokratische Kandidatin ist nicht bereit, ihre Niederlage anzuerkennen, obwohl Kemp den Sieg für sich reklamiert hat. Wer nun aber Stacey Abrams als halsstarrige, schlechte Verliererin etikettieren will, die gerne die erste afroamerikanische Gouverneurin des Bundesstaates Georgia geworden wäre, reagiert zu vorschnell.
Stacey Abrams und ihre AnhängerInnen kritisieren, dass der gegenwärtige Secretary of State von Georgia, der für die Durchführung von Wahlen (US-Midterms und Staatswahlen) verantwortlich ist, niemand geringerer ist als ihr republikanischer Gegenkandidat Kemp. Jimmy Carter (*1924), von 1977 bis 1981 Präsident der Vereinigten Staaten, Mitglied der Demokratischen Partei und selbst aus Georgia stammend, brachte die Kritik an Kemps Doppelrolle auf den Punkt. Der langjährige internationale Wahlbeobachter Carter sieht die fundamentalen Prinzipien demokratischer Wahlen – Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Wahlprozesses – verletzt.
Neben Anzeichen für eine persönliche Befangenheit Kemps, werden auch wahlrechtliche Fragen aufgeworfen. Georgia gehört zu den so genannten «Südstaaten» oder «Konföderierten», welche im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) aus der Union ausgetreten waren. Auslöser für diesen blutigsten Konflikt in der amerikanischen Kriegsgeschichte war neben der Föderalismusfrage die Frage nach der Aufhebung der Sklaverei, welche von den Südstaaten aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen vehement abgelehnt wurde. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg und einigen Jahren der – nicht immer freiwilligen – Wiedereingliederung in des Rechtssystem der Union (Reconstruction), machte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine stark segregationistische Gesetzgebung in den ehemaligen konföderierten Staaten breit, die sich am Grundsatz eines Urteils des Supreme Courts (Plessy vs. Ferguson, 1896) orientierte: Separate but Equal. Georgia und andere ehemalige konföderierte Staaten tolerierten vordergründig die Gleichheit (equal) aller amerikanischen BürgerInnen – unabhängig von ihrer Hautfarbe –, beispielsweise den gleichen Zugang zu staatlichen Dienstleistungen. Andererseits stellten sie sich aber auf den Standpunkt, dass eine Trennung (separate) zwischen «Weiss» und «Schwarz» («Negro», «Coloured») bestehen müsse. Dies führte zur Segregation: alle durften zum Beispiel denselben Bus benutzen (= Transportdienstleistung), die «Schwarzen» hatten aber hinten zu sitzen oder zu stehen.
Diese Diskriminierung der Afroamerikaner fand ihre rechtliche Form in den Jim Crow Laws, welche auch das Wahlrecht betrafen: zwar besassen alle Amerikanerinnen und Amerikaner auf Grund des 15. Zusatzartikels der US-Verfassung von 1870 das Wahlrecht. Den Zugang zur Wahl erteilt aber bis heute der einzelne Bundesstaat. Mit Hilfe von Lese- und Wissensprüfungen, langen Wegen zu den Wahllokalen und Einschüchterung gelang es den Südstaaten, viele Afroamerikaner von den Wahlen fernzuhalten. Diese Praxis änderte sich erst mit dem Voting Rights Act von 1965, der im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960-er Jahren verabschiedet und mehrmals ratifiziert wurde.
Das Ziehen von Wahlkreisgrenzen (Gerrymandering) zur Benachteiligung von Minderheiten und diskriminierende Prüfungen als Vorbedingung für die Aufnahme in die Wählerlisten wurden verboten. Änderungen in den Wahlgesetzen in den ehemaligen konföderierten Staaten bedurften fortan einer Freigabe (Preclearance) durch die Bundesbehörden. Dies blieb so bis zu einem Urteil des Supreme Court im Jahre 2013 (Shelby County v. Holder), das diese Sicherung durch die Bundesbehörden aufhob. Im sehr knappen Gerichtsurteil (4:5 Stimmen) wurde argumentiert, die Preclearance-Regelung sei nicht mehr zeitgemäss.
Seit diesem Urteil haben vierundzwanzig, mehrheitlich republikanisch dominierte Gliedstaaten Änderungen an ihren Wahlverordnungen vorgenommen. Erhebungen zeigen, dass seit 2013 beinahe 1’000 Wahllokale in den USA aufgehoben wurden, meist mit dem Hinweis auf mangelnde Nutzung und mögliches Sparpotenzial. Für die Wählerinnen und Wähler in den betroffenen Bezirken bedeutet dies, dass sie sich umgewöhnen müssen, dass sie längere Wege unternehmen müssen, dass sie eventuell längere Warteschlangen in Kauf nehmen müssen (Wahlen finden in den USA an Werktagen statt, ein effizientes Wahlsystem wäre demnach wünschenswert). Studien leiten alleine aus dieser Massnahme eine sinkende Wahlbeteiligung ab.
Des weiteren wurden Bestimmungen eingeführt, die die Hürden zur Wählerregistrierung erhöhen, die Möglichkeiten für die vorzeitige Stimmabgabe (Early Voting) einschränken oder nur noch ganz bestimmte Ausweise (gliedstaatliche Ausweise wie ID, Fahrausweis, Wählerkarte, oder die Sozialversicherungskarte – insgesamt alles Ausweise, die längst nicht jeder US-Bürger besitzt) als Identifikationsmittel zulassen. Meist sind Angehörige von «Minderheiten» (Afroamerikaner, Native Americans, Hispanics usw.) von diesen Massnahmen betroffen. Da diese tendenziell eher demokratisch gesinnt sind, könnten deren Stimmen in den einzelnen Staaten mit wechselnden Mehrheitsverhältnissen (Swing States) durchaus zu einer Veränderung des Wahlergebnisses beitragen.
Georgia hat seit 2012 insgesamt 1,5 Millionen Wählerinnen und Wähler aus den Wählerlisten gestrichen, davon alleine gut 750’000 in den Jahren 2017 und 2018 (dies entspricht etwa zehn Prozent der Stimmberechtigten in Georgia). Diese Streichung wurde meist damit begründet, dass die betroffenen Personen seit längerer Zeit nicht mehr an Wahlen beteiligt waren (Tod, Wegzug, kein Interesse). Tage vor den Midterms warteten immer noch 53’000 Personen auf ihre Aufnahme in das staatliche Wählerregister von Georgia. Begründet wurde der lange Aufnahmeprozess in das Wählerregister mit dem Verweis auf die Verhinderung von Wahlbetrug. Ein nicht belegtes Argument, das aber auch von Donald Trump immer wieder ins Feld geführt wird, um für ihn ungünstige Wahlresultate in Zweifel zu ziehen. Mittel für die Wahlberechtigungsprüfung ist die Exact Match-Regel. Es dürfen keine abweichenden Merkmale in den Dokumenten und Datenbanken auftauchen (bspw. fehlende Bindestriche oder Akzente, sowie Druckfehler). Würde beispielsweise in meinem Fahrausweis Fisher anstatt Fischer stehen, würde dies gegen diese Exact Match-Regel verstossen und ich müsste mich auf einen bürokratischen Prozess einlassen, der mich Zeit, Geld und Nerven kosten würde.
Aufmerksame Leserinnen und Leser mögen sich nach den vielen Ausführungen in diesem Blog-Eintrag hoffentlich noch daran erinnern, wer in Georgia für die Organisation der Wahlen zuständig ist. Es handelt sich um Brian Kemp, Secretary of State seit 2010 und zufälligerweise auch republikanischer Kandidat für das Amt des Gouverneurs. Bei einem erwartungsgemäss knappen Resultat also wahrlich ein interessantes «Detail». Kemp hat inzwischen zwar seinen Rücktritt als Secretary of State angekündigt – offiziell um sich besser auf sein neues Amt als Gouverneur (das er für sich auf Grund der Ergebnisse für sich beansprucht) vorbereiten zu können.
Angehörige von nichtweissen Minderheiten waren von den getroffenen Verfahrensänderungen proportional am stärksten betroffen. Seit 2012 wurden in Georgia 214 Wahllokale (= acht Prozent aller Wahllokale; ein Drittel aller Counties verlor Wahllokale) geschlossen. Die betroffen Counties sind häufig ländlich geprägt, haben einen überdurchschnittlichen Anteil an armen BewohnerInnen – und weisen in 30 Counties einen afroamerikanischen Bevölkerungsanteil von mindestens 25 Prozent auf. Am Wahltag selbst bildeten sich vor verschiedenen Wahllokalen lange Schlangen. Menschen mussten bis zu fünf Stunden warten, bis sie ihre Stimme abgeben konnten. Einige Wahllokale blieben auf Grund richterlicher Beschlüsse länger offen, damit die Wartenden noch ihre Stimme abgeben konnten. Die Verknappung von Wahllokalen zeigte damit ihre – abschreckende – Wirkung. Nicht zuletzt auf Menschen, die sich den Luxus eines unbezahlten Arbeitstages nicht unbedingt leisten können. Von den erwähnten 53’000 Personen, die aktuell auf ihren Eintrag in das staatliche Wählerregister warten, sind ebenfalls siebzig Prozent Afroamerikaner (bei einem Bevölkerungsanteil in Georgia von etwa 32 Prozent).
Georgia macht seit einigen Jahren einen demographischen Wandel durch. Die Anzahl von jüngeren, nichtweissen Bürgerinnen und Bürgern in Georgia nimmt stetig zu. Die Bürgerrechtsaktivistin und aktuelle Gouverneurskandidatin Abrams beschloss nach dem Urteil des Supreme Court 2013 mit Hilfe des New Georgia Project Menschen aus den nichtweissen Bevölkerungsschichten mit Hilfe von Kursen, juristischer Unterstützung und Aufklärungskampagnen dazu zu bringen, sich in die Wählerregister einzutragen. Dies mit dem Ziel, alle BürgerInnen stärker in die Politik einzubinden. Im Juli 2014 zeigte der Secretary of State eine gewisse Beunruhigung über dieses Projekt: «die Demokraten versuchen all diese Minderheiten da draussen zu mobilisieren.» Im September 2014 ergriff Kemp dann rechtliche Mittel gegen das Projekt, weil «erhebliche illegale Aktionen» beobachtet worden seien. Stacey Abrams Gruppierung hatte bis zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 120’000 Wahlregisteranträge eingereicht. Die Untersuchung brachte schliesslich in 25 Fällen (von 85’000 untersuchten Anträgen) einen ungültigen Antrag zum Vorschein.
Wahlkreisveränderungen, Schliessung oder Verschiebung von Wahllokalen, Streichungsaktionen in den Wählerregistern, neue Regelungen für Frühwählende, Ausweisverordnungen, Exact Match. Häufig sind es Afroamerikaner und Angehörige nichtweisser Minderheiten, die von diesen Massnahmen betroffen sind. Häufig in republikanisch dominierten Gliedstaaten. Ein Professor der Harvard-University stellte in einem Arbeitspapier im Oktober 2018 fest, dass das Bundesgerichtsurteil von 2013 den Schutzmechanismus für Minderheiten vor diskriminierenden Wahlgesetzen im Voting Rights Act von 1965 mehr oder weniger ausgehebelt hat.
Gleichzeitig haben aber auch fünfzehn US-Bundesstaaten in den letzten drei Jahren den Eintrag in das Wählerregister oder das Frühwählen vereinfacht. Experten sind der Meinung, dass voter supression höchstens Veränderungen von ein bis zu zwei Prozent im Wahlergebnis bringen könnten. In Bundesstaaten wie Georgia – oder auch Florida – machen diese wenigen Prozentpunkte jedoch den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage aus.
Der Kampf gegen voter supression ist in diesem Sinne auch ein Kampf für das demokratische Prinzip One Man – One Vote. Menschen werden damit als gleichberechtigte Menschen wahrgenommen und in den politischen und gesellschaftlichen Prozess eingebunden. Die demokratische Staatsform bedarf dieser Integration zwingend, sollen demokratische Entscheidungen nicht in Gerichtssälen oder auf Barrikaden an- und ausgefochten werden.