Unser Aufenthalt in den USA neigt sich seinem Ende zu. Unsere Tochter hat seit gut einer Woche Sommerferien und durchläuft ihr letztes grosses American Experience: ein Summer Day Camp. Ihr letzter Fussballmatch mit dem Team Argentina ist Geschichte, ebenso der letzte Schultag. «Torschlusspanik» macht sich breit. Museen sollten noch besucht werden, eine weitere Kayaktour auf dem Charles, die Boston Harbor Islands, Bekannte treffen, erste TV-Debatten der demokratischen Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten schauen, Einladungen…
Die Zeit wird knapp! Aufräumen! Sortieren! Farewell oder doch Goodbye wünschen! Nach dem Unabhängigkeitstag, dem 4th of July, werden wir unser Haus und Cambridge verlassen und noch etwas mit dem Zelt in New England und in Québec herumreisen. Bis dann Ende Juli unser Aufenthaltsvisum in den USA endgültig abläuft.
Die Grenzen unseres Aufenthaltes drängen sich also schon seit Wochen unausweichlich in unser Bewusstsein.
Grenzen waren in diesen Wochen immer wieder auch das Leitthema beim Besuch von Veranstaltungen und Ausstellungen. Sei es die Verschiebung der Frontier in den Westen des nordamerikanischen Kontinents, sei es das Streben nach der New Frontier unter Präsident John F. Kennedy, das vor fünfzig Jahren, am 21. Juli 1969, in der ersten bemannten Mondlandung seinen ersten, epochenmachenden Höhepunkt fand. Die Frontier. Teil des Mythos‘ der USA als einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dass die Native Americans im Zuge der Ausdehnung der Frontier in den «unbesiedelten» Westen fortwährend verdrängt und diskriminiert wurden, verdeutlicht bereits, dass der Mythos des Amercian Dream nicht für alle Menschen in Nordamerika galt. Offensichtlich wurde diese Tatsache in der Ausstellung zur Westexpansion der USA zwischen 1800 und 1862, aber auch in der Präsentation von Fotografien von Gordon Parks (1912-2006). Der afroamerikanische Fotograf und Filmemacher («Shaft», 1971), begann Ende der 1930-er Jahre zu fotografieren. Er porträtierte Mannequins, Schauspieler, Künstler (unter anderen auch der Bergeller Alberto Giacometti), setzte sich in seinen Fotografien aber auch immer wieder mit den Grenzen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft auseinander.
Deutlich wurden mir die Grenzen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch, als ich heute die Zeitung aufschlug. Während der fünfundvierzigste Präsident nicht müde wird, seinen Border Wall (Grenzmauer) zu propagieren, versuchen Menschen nach wie vor, ihren Traum von einem Leben in Sicherheit und Frieden in den Vereinigten Staaten von Amerika zu verwirklichen. Die Migrationspolitik seiner Administration, welche auf Abschreckung und Abschottung aufbaut, führt dabei zu immer dramatischeren Zuständen an der Südgrenze. Menschen ertrinken beim Versuch des illegalen Grenzübertritts. Kinder werden durch Bundesbehörden in Unterkünften festgehalten, welche selbst elementare Ansprüchen an Hygiene, Nahrung, Unterbringung oder Betreuung nicht gerecht werden. Über die Beilegung der offensichtlichen Notsituation wird politisch heftig gestritten. Der Präsident und hochrangige Vertreter der Republikanischen Partei im Kongress setzen dabei neben akuter humanitärer Nothilfe vor allem auf Abschreckung an der US-Grenze selbst und bereits in Mexiko. Die Demokraten wiederum rufen zur Hilfe in den Herkunftsländern der Flüchtlinge selbst auf. Hilfsgelder, welche die aktuelle US-Regierung notabene unter dem Motto America First zusammengestrichen hat. Letztlich wird eine politische Diskussion geführt, die mir hinsichtlich ihrer Tonalität und ihrer Argumente ziemlich bekannt vorkommt.
Interessant scheint mir dabei, wie Teile der Bevölkerung und der Medien auf diese Situation reagieren. Sie nehmen sie als Notlage wahr. Nicht für die Vereinigten Staaten, sondern für die Menschen, welche versuchen in die USA einzuwandern.
Gestern protestierten mehrere hundert Angestellte eines Möbelversandes und SympathisantInnen in Boston während ihrer Mittagspause gegen eine Möbellieferung ihres Unternehmens an die US-Grenzbehörden. Nicht, weil sie gegen eine anständige Unterbringung der Flüchtlinge gewesen wären, sondern weil die Grenzbehörde die Flüchtlinge in den Augen der Protestierenden schlecht behandelt. Die Unternehmensleitung von wayfair hielt zwar am Geschäft über einen Betrag von 200’000 US-Dollar fest. Gleichzeitig spendete sie aber dem Amerikanischen Roten Kreuz 100’000 US-Dollar zur Milderung der Bedingungen der Flüchtlinge. Das ist in meinen Augen mehr als nur Imagepflege.
Im heutigen The Boston Globe dann ein Editorial mit dem Titel «The migrant crisis: Yes, you can help». Lokale Organisationen werden vorgestellt, welche sich aktiv für eine Beilegung der aktuellen Notsituation einsetzen (Unterkunft, Rechtsbeistand, Verpflegung, Kleidung, sozialer Kontakt). Eine Seite weiter der Titel «American shame: Death in the Rio Grande».
Zugegeben. Eine Tageszeitung im liberalen New England und ein paar hundert Protestierende verändern noch nicht die Welt. Und erst recht nicht die Politik der aktuellen US-Regierung. Aber diese Menschen übernehmen Verantwortung für Andere. So genannte Fremde. Sie berufen sich auf die Grundideen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: alle Menschen sind gleich und haben Rechte, die ihnen niemand nehmen kann. Diese umfassen das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf das Streben nach Glückseligkeit. Diese Menschen tun dies im gesellschaftlichen Diskurs, in den Medien (sehenswert dazu ist auch ein Beitrag des Late Show-Gastgebers Stephen Colbert), durch zivilen Ungehorsam, manchmal (wie kürzlich eine Richterin in Massachusetts) auch unter Umgehung von Bundesrecht. Das Feld soll nicht der populistischen Angstmacherei und der Ausgrenzungspolitik des amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und seiner Anhängerinnen und Anhänger überlassen werden. Ein Ansatz, der zur Nachahmung auffordert.