Feiertag

Klar. Ich könnte nun von den Abschlussfeiern an den beinahe dreissig Universitäten, Hochschulen und Colleges schreiben, die es im Grossraum Boston gibt. Der The Boston Globe berichtet täglich über die Graduierungen und die Reden, die zu diesem Anlass gehalten werden.

Klar könnte ich erwähnen, dass ich Angela Merkel noch nie so nahe gekommen bin wie in Cambridge / Massachusetts. Die deutsche Bundeskanzlerin hielt am vergangenen Donnerstag (30. Mai) die Hauptrede an der Abschlussfeier an der Harvard University (sinnigerweise commencement genannt, was eher auf den Beginn einer neuen Zukunft nach diesem Abschluss hinweist). Bei ihrer Kurzvisite erhielt sie gleich auch noch die Ehrendoktorwürde der altehrwürdigen, 1636 als Ausbildungsstätte für Geistliche gegründeten Universität in «einem Vorort von Boston» (nota bene: die Neue Zürcher Zeitung degradiert die 1630 gegründete Stadt Cambridge zu einem «Vorort»…).

 

Berichte zu Angela Merkels Anwesenheit an der Commencement-Feier der Harvard University, 30. Mai 2019 [Quelle: Neue Zürcher Zeitung, The Boston Globe, 30.5.2019]

Darüber zu berichten, wäre allerdings Wasser in den Charles River getragen. Alle grosse Zeitungen, auch die Schweizerischen, berichteten über die knapp dreissigminütige, mehrheitlich auf Deutsch gehaltene Rede, welche nicht auf einige Spitzen gegen den US-Präsidenten verzichtete.

Nichtsdestotrotz. Mit etwas «gutem Willen» hat «mein» Fest schon auch eine Verbindung mit dem Fest in Harvard: Nach einem Gang um das Universitätsgelände (ein Zutritt zum Harvard Yard war an diesem Tag nur den Graduierten, deren Angehörigen und den Notabeln vorbehalten) hörte ich, wie sich ein Harvard-Graduierter und ein Bekannter begrüssten. Bevor sie auf Amerikanisch wechselten, hörte ich ein «salam aleikum» (arabisch für «Der Friede sei mit Dir»), den in der muslimischen Tradition üblichen Gruss.

Und da bin ich bei «meinem» Feiertag! – Mehr oder weniger elegant.

Die geneigte Leserin bzw. der geneigte Leser mag sich vielleicht noch daran erinnern, dass ich im vergangenen September einen Blog über unterrichtsfreie Tage an den öffentlichen Schulen in Cambridge veröffentlicht habe (vgl. «Give ´em a break», 14. September 2018). Neben Weihnachten und Karfreitag bleiben die Tore der Schulen von Cambridge auch an einem jüdischen und an einem islamischen Feiertag verschlossen. Und nun ist es soweit! Morgen ist unterrichtsfrei! Keine Auffahrt (-sbrücke), kein Pfingstmontag – wenn man es nicht wüsste, würde man diese Feiertage hier glatt vergessen, weil sie im öffentlichen, multikulturell-kapitalistisch geprägten Leben keine Rolle spielen – sondern Eid al-Fitr, der muslimische Feiertag zum Ende des Fastenmonats Ramadan.

2010 hatte das Cambridge School Commitee einen islamischen Feiertag in den Schulkalender aufgenommen (entweder Eid al-Fitr, Fest am Ende des Ramadan, oder Eid al-Adha, Opferfest während des Pilgermonats, je nach Lage der Schulferien und anderen Feiertage). Obwohl die muslimische Bevölkerung in Cambridge bzw. im Grossraum Boston unter einem Prozent liegt (knapp 50’000 Personen im Grossraum Boston), sahen die Behörden es für gerechtfertigt, der wachsenden muslimischen Bevölkerung einen schulfreien Tag zu widmen, im Sinne der Werthaltung der Stadt:

«I think this shows that we live up to our values, and our values are of inclusion and of respect.»Dies zeigt in meinen Augen, dass wir unseren Werten nachleben, welche Einbezug und Respekt umfassen»; Quelle: School Superintendent Jeffrey Young im The Boston Globe, 7.11.2011]

Anfang Mai 2019 verschickte die Schulgemeinde einen Informationsbrief an alle Eltern schulpflichtiger Kinder in welchem auf den bevorstehenden Fastenmonat hingewiesen wurde. Neben einer kurzen Einführung in den Sinn und die Bedeutung des Ramadan wurden Empfehlungen abgegeben, was man Muslimen und Musliminnen während der Fastenzeit wünschen kann, oder was man tun kann, um die islamische Tradition im eigenen Umfeld (Freunde, Familie, Arbeitsort) bekannter zu machen. Lehrpersonen wurden daran errinnert, welche phyischen Konsequenzen das Fasten von Sonnenaufgang bis zur Nacht mit sich bringen kann (Müdigkeit durch frühes Aufstehen, Hunger, Durst) und wie man darauf reagieren soll (Erleichterungen im Sport und auf Ausflügen, keine exzessiven Apéros usw.).

Auf den Mittwoch, 22. Mai 2019, lud der Bürgermeister, Marc McGovern,  die Cantabrigians (BewohnerInnen von Cambridge) zu einem gemeinsamen Fastenbrechen (Iftar) bei Einbruch der Nacht in die City Hall (Stadthaus) ein. Als sich die Schulbehörde bewusst wurde, dass Eid al-Fitr für einige Menschen muslimischen Glaubens auf den 4. Juni fallen könnte statt auf den offiziellen, unterrichtsfreien 5. Juni, beeilte sich der School Superintendent Kenneth N. Salim in einem E-Mail zu erklären, weshalb es zu dieser «Datumsverwirrung» kam (konkrete Himmelsbeobachtung an einem bestimmten Ort der Welt oder Errechnung «auf dem Papier», beide Wege haben ihren Platz in der islamischen Tradition). Gleichzeitig hielt er fest, dass am 4. Juni fehlende Schülerinnen und Schüler entschuldigt seien, wenn sie dafür religiöse Gründe geltend machen würden. Am Ende dieser Information äusserte sich der Leiter der Schulbehörde noch einmal dazu, weshalb überhaupt ein muslimischer Feiertag seinen Eingang in den Schulkalender gefunden hat:

«Whatever your personal beliefs or religious faith, I hope that we can all agree that our community is made stronger when we allow ample space for individuals and communities to follow their conscience. Religious and cultural diversity make our community stronger and more vibrant, and that is something to celebrate.» («Ich hoffe, dass – unabhängig davon welche eigenen Überzeugungen oder welchen religiösen Glauben Sie haben – wir alle die Meinung teilen können, dass eine Gemeinschaft stärker wird, wenn sie jedem Einzelnen und allen Gemeinschaften einen angemessenen Platz einräumt, um ihren Gewissen folgen zu können. Religiöse und kulturelle Vielfalt machen unsere Gemeinschaft stärker und lebendiger. Dies ist etwas, was es zu feiern gilt.»; Quelle: E-Mail von Superintendent Salim, 30.5.2019]

Klar. Eine Einwanderungsgesellschaft wie die amerikanische eine ist, muss irgendwie mit dieser Diversität umgehen. Allerdings bröckelt in der us-amerikanischen Gesellschaft die traditionelle melting-pot-Idee (Schmelztiegel). Die aktuelle Regierung baut, wie ähnliche politischen Strömungen in Europa, ihren Erfolg unter anderem auf versteckter und offener Ablehnung von EinwandererInnen auf. Die Zeiten sind härter geworden für den American Dream. Vergessen geht in der durch den Präsidenten heraufbeschworene Angst vor dem Islam aber, dass dieser kein reines Einwanderungsphänomen des 20. und 21. Jahrhunderts ist. Seit den frühesten Zeiten der Kolonisierung gehört der Islam zur Geschichte Amerikas. Schätzungsweise fünfzehn Prozent der aus Westafrika nach Amerika verschleppten und versklavten Menschen waren Muslime. Im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen viele muslimische EinwandererInnen aus dem Nahen Osten dazu. Mit der stärker werdenden Opposition gegen Diskriminierung und Segregation nach dem Ersten Weltkrieg fand die Black Muslim Bewegung unter den Afro-AmerikanerInnen Anklang. Diese suchte in den islamischen Wurzeln Afrikas eine Quelle für ein eigenes Selbstbewusstsein im Bürgerrechtskampf. Malcolm X und der Boxer Muhammad Ali sind dafür die prominentesten Beispiele. Und natürlich dauert bis heute die Einwanderung in die USA an – auch aus muslimischen Gesellschaften.

Letztlich bleibt die Frage, wie man mit unterschiedlichen Menschen eine Gemeinschaft schafft. Ob eine Gesellschaft eine Einwanderungsgesellschaft ist oder nicht, spielt dabei höchstens eine untergeordnete Rolle. Zu stoppen waren und sind Wanderungen nicht wirklich – ausser es ändert sich etwas an den Verhältnissen in den einzelnen Regionen unseres Planeten (Wohlstandsverteilung, Ressourcen, politische Freiheiten, Klima usw.). Dass eine Mehrheit offen mit Minderheiten umgeht, auch wenn sie ziemlich klein sind, und auf den Aufbau einer Gemeinschaft hinarbeitet, ist am Ende aber wohl zielfühlender als der Bau von Mauern (konkret oder im Kopf). Politische Verantwortungsträger in der Legislative und Exekutive (inkl. die öffentliche Schule) tragen mit ihrer Sprache und ihren Gesten wesentlich dazu bei, dass in Gesellschaften ein Bewusstsein für Offenheit entsteht, welches die Bildung solcher Gemeinschaften erleichtert.

Wann wird ein muslimischer Feiertag in der Schweiz schulfrei? Welcher reformierte oder katholische Feiertag fällt weg? Was verlieren wir? Was gewinnen wir? Die Tatsache eines muslimischen Feiertages im Schulkalender meiner Tochter hat mich ziemlich ins Grübeln gebracht. Der Weg ist noch weit, die Probleme sind unübersehbar. Für den Moment gilt aber: «Id mubarak», «Gesegnetes Fest».

 

Nachtrag (5. Juni 2019)

Auf dem Online-Portal des Tages-Anzeigers wird heute eine «Handynummer-Affäre» breitgeschlagen. Ein Nationalrat hat auf seiner Facebook-Seite einen Informationsbrief einer Stadtzürcher Primarlehrerin an die Eltern ihrer Schulkinder bezüglich der Absenzenregelung an Eid al-Fitr veröffentlicht. Als der Post auf Facebook erschien, war der Name der Lehrerin und deren Telefonnummer für alle sichtbar. Der «bürgerliche» Politiker suggerierte, man könne der «Lehrerin mitteilen, was man davon [von diesem Brief] hält». Nach Interventionen der Schulleitung wurde der Name der Lehrerin und deren Nummer aus dem Post entfernt. Inzwischen hat sich die Bildungsdirektorin des Kantons Zürich, Silvia Steiner (CVP), in die Diskussion eingeschaltet und den Post des Nationalrates als inakzeptabel bezeichnet. Der Nationalrat kommentiert diese Interventionen mit Sätzen wie «weit haben wir es gebracht…» und «Schweizer, erwache!» Die Verteidigung des aufgeklärten Abendlandes mit Hilfe der bewährten Methode des mittelalterlichen Prangers – leicht adaptiert an die modernen sozialen Medien. Soweit haben wir es also gebracht.

 

 

 

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