Das Spiel aller Spiele ist vorbei. Der dreiundfünfzigste Super Bowl, das jährliche Meisterschaftsspiel im American Football. Die bessere Mannschaft hat gesiegt. Und diese Mannschaft musste, natürlich auch aus unserer ganz unvoreingenommenen Sicht, New England Patriots heissen. Ganz Greater-Boston, ganz Massachusetts, ja ganz New England (historische Bezeichnung für die US-Staaten im Nordosten des Landes, d.h. Rhode Island, Connecitcut, Massachusetts, New Hampshire, Vermont und Maine) ist kollektiv aus dem Häuschen. Selbst in der Sonntagsmesse der Sacred-Heart-of-Jesus-Parish war DAS Spiel ein Thema. Dementsprechend kannte der The Boston Globe am Montag nur ein Thema: die Patriots.
Am Dienstag findet die grosse Siegesparade in den Strassen von Boston statt. Über eine Million Festfreudige werden dazu erwartet. Nach den Boston Red Sox im Baseball holen nun die Patriots einen Meistertitel im Football (NB: die weniger körperbetonte Form des gemeinhin als Fussball bekannten Spiels wird in den USA bekanntlich als Soccer bezeichnet) in die Massachusetts Bay. Mit diesem sechsten Sieg in einem Endspiel sind sie neben den Pittsburgh Steelers Rekordmeister. Bereits träumen einige von einem Meistertitel der Boston Celtics im Basketball und vom Stanley Cup der Boston Bruins (der dürfte aber eher unwahrscheinlich sein).
Zum LIII. Mal (schön in römischen Zahlen durchnummeriert) veranstaltete die mächtige und nicht unumstrittene National Football League (NFL) dieses Endspiel, den Super Bowl. «Nebenbei» ein Riesengeschäft. Nicht nur für die NFL. Auch die übertragende Fernsehanstalt CBS und die Stars und Sternchen, welche im Show-Block in der Halbzeit auftreten können profitieren vom Sportereignis. Mit einem kurzen Auftritt, einem Werbetrailer (dreissig Sekunden kosten rund 5 Millionen Dollar) erreicht man auf einen Schlag Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern. Nie sonst sitzen so viele Menschen in Amerika (und inzwischen weit darüber hinaus) gleichzeitig vor einem Fernseher.
Austragungsort des Super Bowl ist traditionellerweise eine Stadt im Süden der USA. Am Ende der Football-Saison im Februar wäre es in New York, Philadelphia oder Boston schlicht zu kalt, um genügend Menschen in ein Stadion locken zu können. So pilgerten rund 75’000 Menschen in das Mercedes-Benz-Stadium in Atlanta, der Hauptstadt des Bundesstaates Georgia. Dazu kamen noch tausende weitere Fans, die das Spiel möglichst nahe bei ihrer Mannschaft mitverfolgen wollten.
Dort standen sie sich dann gegenüber. Die Patriots mit ihrem Spielmacher Tom Brady (*1977) und die Rams mit Jared Goff (*1994). Ein kleiner Generationenkonflikt wurde erwartet zwischen dem GOAT (Greatest of all time) Brady und Goff, der zum ersten Mal an einem Super Bowl teilnahm.
Und irgendwie stand immer auch ein dritter Quarterback in der Arena, auch wenn er keine aktive Rolle auf dem Spielfeld hatte: Colin Kaepernick (*1987), ehemaliger Quarterback der San Francisco 49ers. Im Unterschied zu den beiden Spielmachern auf dem Feld des Super Bowl ist Kaepernick Afroamerikaner, was ihn alleine deshalb schon ziemlich einzigartig macht. Zwar sind gut zwei Drittel der Spieler in der NFL schwarz, fast vier Fünftel aller Quarterbacks hingegen weiss. Fast alle Klubbesitzer der 32 NFL-Mannschaften sind ebenfalls weiss. Bezieht man in diese statistischen Aussagen noch das geschichtliche Faktum mit ein, dass die NFL-Klubs erst nach dem Zweiten Weltkrieg – und meist erst nach öffentlichem Druck – vermehrt afroamerikanische Spieler in ihre Mannschaften holten, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass innerhalb der NFL die Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe ein noch nicht ausgestandenes Problem darstellt.
Dass aber alle am LIII. Super Bowl von Colin Kaepernick sprachen, ist nicht alleine der Tatsache geschuldet, dass er als schwarzer Spieler in der Quarterbackposition ein ziemliches Unikum war. In den USA ist es seit Beginn der 2000-er Jahre üblich geworden, vor den NFL-Spielen die Nationalhymne zu spielen. Bis 2009 waren die Spieler aber nicht einmal verpflichtet, während des Abspielens des «Star-Spangled Banner» am Spielfeldrand zu sein. Kaepernick entschied sich zu Beginn der Spielsaison 2016/2017 zunächst dazu, während der Nationalhymne sitzenzubleiben (was nicht verboten war). In Absprache mit anderen Spielern hörte er sich die Hymne bald darauf kniend an, aus Respekt vor den Veteranen, welche als Soldaten ihren Körper und ihr Leben für diese Flagge geopfert hatten.
Im August 2016 erklärte er sein Verhalten in einem Interview mit dem Mediendienst des NFL:
«I am not going to stand up to show pride in a flag for a country that oppresses Black people and people of color […] To me, this is bigger than football and it would be selfish on my part to look the other way. There are bodies in the street and people getting paid leave and getting away with murder.» [Quelle: Ninersnation, 5.2.2019]
Kaepernick spielte damit auf mehrere Fälle von Polizeigewalt gegenüber Nichtweissen in den USA an, die seit 2013 zur Protestbewegung #BlackLivesMatter führten. Er kündigte des weiteren an, mit diesem stummen Protest weiterzufahren, bis die Flagge das umsetze, was sie repräsentiere: Freiheit und Gerechtigkeit für alle (so wie es ihm Fahneneid der USA heisst). Die Reaktionen auf diese Aktion, waren äusserst kontrovers. Etliche schwarze – und auch weisse – Spieler schlossen sich in der Saison 2016/2017 und in der Saison 2017/2018 dem Protest an. Viele Fans waren aber auch der Meinung, Colin Kaepernicks Verhalten entehre die Flagge. Das Knien fand rasch Eingang in die politische Diskussion. Während Präsident Barack Obama 2016 Verständnis, wenn auch keine Zustimmung, für das Knien während der Nationalhymne zeigte, fand Donald Trump in der zweiten Saison des Spielerprotests im September 2017 an einer Wahlrede in Alabama überdeutliche Worte:
“Wouldn’t you love to see one of these NFL owners, when somebody disrespects our flag, to say, ‘Get that son of a bitch off the field right now, out, he’s fired. He’s fired!” [Quelle: CNN, 5.2.2019]
Kaepernick war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr auf dem Spielfeld. Er hatte nach der Saison 2016/2017 seinen Vertrag bei den San Francisco 49ers gekündigt und wartet seither auf einen neuen Vertrag. Trotz seiner guten Resultate fand er keinen neuen Klub, was ihn dazu veranlasste, eine Klage gegen die NFL einzureichen. Er vermutete Absprachen untern den Klubbesitzern, die seiner Karriere ein Ende setzen wollten. Die Klage ist noch hängig, ein Nichtigkeitsantrag der NFL wurde abgelehnt.
Kaepernick ist also seit zwei Spielzeiten nicht mehr auf einem NFL-Feld. Und dennoch beherrscht er die Schlagzeilen mit dem Protest, den er im August 2016 begann. Nike machte Kaepernick im Herbst 2018 zum Werbeträger für seine Kampagne zum dreissigjährigen Jubiläum seines Slogans «Just Do It». Ein sehr berührender Clip – und ein grosser kommerzieller Erfolg für den Sportartikelhersteller. Kaepernick selbst engagiert sich – auch mit seinem Vermögen – für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierungen. Im Oktober 2018 hat er für seinen «Beitrag zur Geschichte und Kultur der Schwarzen in den Vereinigten Staaten» an der Harvard University die W.E.B. Du Bois Medaille des Hutchins Center for African and African American Research erhalten. In seiner Dankesrede versuchte Kaepernick, der sehr selten in der Öffentlichkeit auftritt und sich in die andauernde Debatte einbringt, seine Motivation in Worte zu fassen. Er erzählte von einem Besuch bei einer High School Mannschaft in Oakland / Kalifornien. Vor dem Spiel sagten ihm Spieler, sie würden zu Hause nichts zu Essen kriegen, deshalb seien sie nun hier. Dies sei für ihn ein Erlebnis gewesen, das ihn seither ständig begleite. Er fühle eine enorme Verantwortung, die alle verspüren sollten, die ihn privilegierten Positionen seien. Eine Verantwortung, sich für diese Menschen einzusetzen, sie zu bestärken. Andernfalls bleibe man Komplize der bestehenden problembehafteten Struktur.
Wie man mit Kaepernicks Aktion umgeht, ist nach wie vor umstritten. Der Versuch der NFL das Knien per Reglement zu verbieten scheiterte zwar, aber nur noch wenige Spieler knieten noch in der eben zu Ende gegangenen Saison 2018/2019 während der Nationalhymne (bzw. sie wurden schlicht nicht mehr in den TV-Übertragungen gezeigt). Grimmige Gesichter, fehlende rechte Hände auf der Brust können allenfalls als stiller Protest interpretiert werden. Eine Umfrage des Sportmagazins The Undefeated, erstellt aus Anlass des LIII. Super Bowl, befragte rund 5’500 Menschen unter anderem bezüglich ihrer Position gegenüber Spielern, die während der Nationalhymne aus Protest gegen Polizeigewalt und ökonomische Ungleichheit niederknien.
Ein ähnlicher Graben zwischen Schwarzen und Weissen machte sich auch bei der Frage auf, ob diese Aktion patriotisch bzw. unpatriotisch zu werten sei – ein Narrativ, das nicht zuletzt mit der Aussage von Präsident Trump im September 2017 nochmals an Schärfe gewonnen hatte.
[Quelle: The Undefeated, 5.2.2019]
Die NFL-Gemeinde ist tief gespalten. Dies zeigte sich schliesslich auch in den Vorbereitungen zum LIII. Super Bowl. Etliche angefragte Künstlerinnen und Künstler verweigerten sich dem verlockenden Angebot, in der Halbzeit-Show aufzutreten. Einige verknüpften ihre Aussage explizit mit dem Fall Kaepernick. Gladys Knight, die Soullegende die schliesslich die Nationalhymne zur Eröffnung des Super Bowl sang, gab im Vorfeld ein längeres Statement für ihre Beweggründe ab. Für sie sei der Auftritt ein Moment, Einheit zu schaffen und zu zeigen, dass sie trotz aller Widerstände, die sie in ihrer langen Karriere als Afroamerikanerin und Bürgerrechtlerin erfahren habe, immer noch da sei.
Die Einladung von Gladys Knigth war sicher ein Schachzug, um das angeschlagene Image der NFL auzupolieren. Der Austragungsort Atlanta machte die ganze Sache aber nicht leichter für die Liga-Verantwortlichen. Atlanta ist nicht einfach eine Stadt im Süden der USA. Atlanta wurde während des amerikanischen Bürgerkriegs 1864 von Unionstruppen in Schutt und Asche gelegt (der 1939 verfilmte Roman «Vom Winde verweht» hat dieses Ereignis im kollektiven Gedächtnis verewigt). Der Sezessionsversuch der Südstaaten, ausgelöst durch die im Zuge der nach Westen wachsenden Union immer brennender werdende Sklavenfrage, hatte 1861 in diesen opferreichsten Konflikt überhaupt in der nicht gerade kurzen amerikanischen Kriegsgeschichte geführt. Die Niederlage der Konföderation 1865 setzte der Sklaverei zwar ein Ende. Die Segregation, die Jim-Crow-Laws, der Klu-Klux-Klan, rassistisch motivierte Lynchmorde stehen aber für die auch nach dem Krieg fortdauernde Diskriminierung der AfroamerikanerInnen (nicht nur im Süden). Die Debatten um die Flagge der Konföderierten und Denkmäler von konföderierten Offizeren, rassistisch motivierte Hate-Crimes, der Aufmarsch von White-Supremacists in Charlottesville / Virginia 2017, die Diskussion um übermässige Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern und Wahlgesetze, welche Afroamerikaner systematisch diskriminieren machen – nicht zuletzt im Bundesstaat Georgia selbst – zudem deutlich, dass diese Geschichte selbst heute nicht ausgestanden ist. Auch nicht in Atlanta, der Geburtsstadt von Martin Luther King. Auch nicht nach den Bürgerrechtsgesetzen von 1964. Auch nicht nach dem ersten afroamerikanischen Präsidenten (Barack Obama, 2009-2017).
Dementsprechend versuchte es die NFL mit vielen symbolhaften Gesten an diesem Abend. Gladys Knights Auftritt war eine davon. Die andere war, dass der Coin Toss vor dem Spiel durch drei Ikonen der Bürgerrechtsbewegung beaufsichtigt wurde, darunter Bernice King. Die jüngste Tochter von Martin Luther King trug zu diesem Anlass ein T-Shirt mit einem Zitat ihres Vaters: «Justice for all». Zudem wurde vor dem Münzwurf von der Übertragungsanstalt CBS ein Clip eingeblendet, der mit Bildern von Martin Luther King durchsetzt war. Ob dies reicht, um offene Wunden in der NFL-Gemeinde beziehungsweise in der amerikanischen Gesellschaft zu heilen? Die kurz nach der Ausstrahlung einsetzende Debatte lässt vermuten, dass es wohl etwas mehr braucht als einige symbolische Gesten an Sportanlässen. Wie steht es mit Colin Kaepernick? Lichtgestalt? Abgehalfteter Quarterback mit Geltungsbedürfnis? Der Punkt, den der Sportler (wieder) ins Licht rückte, ist jedenfalls ein real existierender wunder Punkt, den man weder ignorieren sollte noch ignorieren kann.
PS:
Wer sich die Debatte um knieende Footballspieler lieber in Form von Clips anschauen will: Trevor Noah (The Daily Show) hat im September 2017 zwei ziemlich zum nachdenken anregende Clips dazu ins Netz gestellt. Sehenswert.
When Is the Right Time for Black People to Protest?
The NFL Takes a Knee in Protest of Trump