Thanksgiving

Thanksgiving, das amerikanische Familienfest schlechthin, ist schon fast zwei Wochen her. Und auch wir haben es inzwischen recht gut verdaut;-).

Thanksgiving: Familien versammeln sich um den Tisch, auf dem ein (natürlich von der Mutter) sachkundig zubereiteter Truthahn liegt, der nach einem Tischgebet vom Familienoberhaupt (natürlich vom Vater) ebenso sachkundig zerlegt und unter die Anwesenden verteilt wird. Ebenso die vielen Beilagen. Soweit die gängige Vorstellung.

Quelle: https://sb-bg.com/app/uploads/2017/11/img30.gif [3.12.2018]

Wir haben Thanksgiving bei einer befreundeten Familie in Upstate New York verbracht, nahe der kanadischen Grenze, direkt am Lake Ontario. Das hiess, etwa sechs Stunden Autofahrt (gut 590 Kilometer oder 370 Meilen), Masspike, New York State Thruway, Interstate 81. Um nicht allzu lange fahren zu müssen, haben wir uns für die Hin- und Rückreise je zwei Tage gegönnt mit jeweiligem Zwischenhalt in Springfield MA. Eine nicht unglückliche Entscheidung, versprachen die Wetterprognosen für den Hinweg viel Regen, Schneetreiben, starke Windböen und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt (oder eben so um die fünf bis zehn Grad Fahrenheit…, das klingt für metrisch geschulte Ohren gleich viel angenehmer). Ausgerüstet mit Winterkleidern und Schlafsäcken (man weiss ja nie, ob man nicht irgendwo auf der Autobahn steckenbleibt – die Bilder vom ersten Schneesturm an der Ostküste am 16. November steckten uns noch in den Knochen!) fuhren wir am Dienstag los. Die Tage am Ontariosee waren schön, wenn auch ziemlich kühl, der Truthahn und alles andere mundete!

Im Büchlein, das mir «meine» 6d-Maturae und -Maturi an der Maturafeier zum Abschied geschenkt hatten steht:

Beim jährlich am vierten Donnerstag im November gefeierten Thanksgiving (Erntedankfest) versammeln sich weit vertstreut lebende Familien zum festlichen Familienessen an einem Tisch. Erwachsene Kinder kämpfen sich in der Hauptverkehrszeit des Jahres tapfer bis zum Heim ihrer Vorfahren durch […].  [Quelle: Stephanie Faul: So sind sie, die Amerikaner, Bielefeld 2017, 52]

Im Grunde genommen haben wir uns also wie typische Amerikanerinnen und Amerikaner an Thanksgiving verhalten, was natürlich auch unsere akkurat-schweizerische Integration in die amerikanische Gesellschaft belegt. Thanksgiving ist die Feiertagsperiode mit den höchsten Wanderungsbewegungen in der amerikanischen Mobilitätsgesellschaft. Alleine im Flugverkehr wurden gut 30 Millionen Flugpassagiere prognostiziert.

Quelle: https://blogs.forbes.com/danielreed/files/2018/11/A4A-Thanksgiving-18.jpg [3.12.2018]

Auf dem Boden wurden weitere knapp 54 Millionen Menschen erwartet, die eine Strecke von mehr als fünfzig Meilen für einen «Turkey Fare» unter ihre vier Pneus unternehmen würden (also wohl auch einige, die anschliessend noch ein Flugzeug bestiegen haben). Bei einer Einwohnerzahl von etwas mehr als 327 Millionen ziemlich beachtliche Zahlen. Eine Blick auf weltweite saisonale Wanderungsbewegungen offenbart, dass einzig das chinesische Neujahrsfest Thanksgiving um ein paar Millionen überflügelt…

 

Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Thanksgiving_(United_States) [3.12.2018]

Die im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegene Reisetätigkeit in den Tagen um Thanksgiving ist nach Meinung vieler US-Kommentatoren der momentan guten Wirtschaftslage in den Vereinigten Staaten zu verdanken. Ob diese Entwicklung der guten Führung durch Präsident Trump zu verdanken ist, wäre zu diskutieren. Er selbst jedenfalls hat seine Leistungen in Äusserungen um Thanksgiving herum mit einer «A-Plus» (Note 6) benotet. Gewohnt bescheiden bedankte er sich (bei Thanksgiving geht es ja um das Bedanken) dabei auch gleich bei sich selbst:

Trump bedankte sich «for having a great family and for having made a tremendous difference in this country. I’ve made a tremendous difference in the country. This country is so much stronger now than it was when I took office that you wouldn’t believe it. […] And I mean, you see, but so much stronger people can’t even believe it. When I see foreign leaders they say we cannot believe the difference in strength between the United States now and the United States two years ago, […]. Made a lot of progress.» [Quelle: CNN, 3.12.2018]

Wie dem auch sei…

Ökologisch ist diese Transhumanz sicher eher bedenklich, berücksichtigt man die vornehmliche Wahl der Transportmittel. Aber auch mental fordern die «Turkey Fares» den Reisenden einiges ab: lange Schlangen beim Check-In, meilenweite Staus auf den Highways. Der gutgemeinte Rat, früh zu reisen, wurde von uns befolgt, was uns fast gänzlich vom Stau befreite. Zum Glück konnten nicht alle diesen Rat befolgen…

 

Quelle: The Boston Globe [3.12.2018]
Mental belastend können auch die Familienessen an sich sein (nochmals aus dem Abschieds-Büchlein der 6d):

Erwachsene Kinder kämpfen sich in der Hauptreisezeit des Jahres tapfer bis zum Heim ihrer Vorfahren durch, wo sie dann zu viel essen, zu viel trinken und den Faden alter Streitigkeiten wiederaufnehmen, als seien sie nie weg gewesen. (Stephanie Faul: So sind sie, die Amerikaner, Bielefeld 2017, 52)

Trotz dunkler Erinnerungen aus der Filmgeschichte verlief unser Mahl wie erwartet glücklich, zufrieden und herzlich, inklusive dem obligaten Footbalmatch im Fernsehen zur Verdauung.

Wer nun aber denkt, dass Thanksgiving schon immer zur amerikanischen Kultur gehört wie die Tea-Party von Boston, der Hamburger oder die Stars-and-Stripes hat sich gründlichst getäuscht. Zwar wird heute an Thanksgiving immer Bezug genommen auf das «erste Thanksgiving», welches die calvinistischen Kongregationalisten  (Pilgrims) der Mayflower im Herbst 1621 in Plymouth MA gefeiert haben. Auch Präsident Trump nimmt in seiner Erklärung zum diesjährigen Thanksgiving auf dieses Ereignis Bezug:

On Thanksgiving Day, we recall the courageous and inspiring journey of the Pilgrims who, nearly four centuries ago, ventured across the vast ocean to flee religious persecution and establish a home in the New World. They faced illness, harsh conditions, and uncertainty, as they trusted in God for a brighter future. The more than 100 Pilgrims who arrived at Plymouth, Massachusetts, on the Mayflower, instilled in our Nation a strong faith in God that continues to be a beacon of hope to all Americans. [Quelle: Presidential Proclamation on Thanksgiving Day, 3.12.2018]

Doch just diese Erklärung macht die historische Relativität dieses Feiertages schon augenscheinlich. Es handelt sich nämlich dabei nicht nur um einen wohlmeinenden und feierlichen Aufruf zum Dank und zur Besinnung, sondern um einen juristischen Text, der mit einer Vorwarnzeit von zwei Tagen Thanksgiving als nationalen Feiertag festlegt:

NOW, THEREFORE, I, DONALD J. TRUMP, President of the United States of America, by virtue of the authority vested in me by the Constitution and the laws of the United States, do hereby proclaim Thursday, November 22, 2018, as a National Day of Thanksgiving. I encourage all Americans to gather, in homes and places of worship, to offer a prayer of thanks to God for our many blessings.

IN WITNESS WHEREOF, I have hereunto set my hand this twentieth day of November, in the year of our Lord two thousand eighteen, and of the Independence of the United States of America the two hundred and forty-third.

Thanksgiving ist in diesem Sinne trotz allem Anschein zumindest auf staatlicher Ebene ein relativ junger Feiertag. Auch das Datum blieb lange unbestimmt. Der heutige vierte Donnerstag geht auf Präsident Franklin D. Roosevelt zurück, der sich 1941 mit dem Kongress auf dieses Datum einigen konnte. Dabei hatten wirtschaftliche Überlegungen keine unerhebliche Rolle gespielt: Thanksgiving markiert in den USA den Beginn der Weihnachtsfeiertage (nicht der 1. Dezember oder 1. Advent) und damit auch der Feiertagseinkäufe. In den Zeiten der «Great Depression» versuchte Roosevelt mit einem früheren Thanksgiving-Datum die Konjunktur durch Konsum anzukurbeln. Den arbeitsfreien Brückentag nach Thanksgiving sollten die Amerikanerinnen und Amerikaner für den Einkauf der ersten Weihnachtsgeschenke nutzen, angelockt durch besonders attraktive Preise – die Bestimmung des «Black Friday»…! Davor lag das Datum je nach Bundesstaat oder Region irgendwo in Herbstzeit, zumindest meistens – war es doch auf Grund der puritanischen Vergangenheit als Erntedankfest konzipiert.

Immer wieder wurde das Familienfest aber auch auf die staatliche Ebene gehoben – in der Form eines Art Dank-, Buss- und Bettages, wie wir ihn auch in der Schweiz jeweils im September kennen. Die erste Erklärung eines nationalen Thanksgivings wurde 1777 mitten im Unabhängigkeitskrieg erlassen und sollte die aufständischen Siedler der dreizehn Kolonien in ihrem Unabhängigkeitswillen bestärken. Nach der Unabhängigkeit erliess George Washington mehrere Male ein nationales Thanksgiving, während eher deistisch eingestellte Präsidenten darauf verzichteten, den Anschein zu erwecken, dass Gott in die Geschicke der amerikanischen Republik eingreife. Mitten im amerikanischen Bürgerkrieg (Sezessionskrieg, 1861-1865) war es dann Präsident Abraham Lincoln, der 1863 mit der Ausfrufung von zwei Thanksgiving Feiern (einen im August für die durch die Union gewonnene Schlacht von Gettisburg, einen im November) der Tradition eines staatlichen Familienfeiertages im November zum Durchbruch verhalf. Aber Thanksgiving bleibt ein Feiertag, der bis heute einer Erklärung des Präsidenten bedarf um als nationaler Feiertag zu gelten.

Fazit: Eine direkte Linie zum Thanksgiving, das die Pilgerväter und -mütter nach dem ersten bitteren Winter 1620/1621 und den erfolgreichen Ernten im Herbst 1621 in der «Plimoth Plantation» feierten, lässt sich also nur mit Ach und Krach ziehen. Vielmehr handelt es sich um ein Ereignis, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu diente, einen nationalen Gründungsmythos (ante festum) der Vereinigten Staaten von Amerika zu schaffen. Die Entdeckung und Veröffentlichung der Quellen zum Thanksgiving 1621 in Plymouth in der Mitte des 19. Jahrhunderts trugen als Quellenrohstoff zur Herausarbeitung dieses Ecksteins der nationalen Identität bei.

Etwas vergessen geht dabei, dass an diesem «ersten» Thanksgiving in Plymouth, das die EuropäerInnen schon in der «alten Welt» gefeiert hatten, auch etliche Wampanoag anwesend waren. Diese Ackerbau betreibenden Native-Americans hatten nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Pilgrims der «Plimoth-Plantation» den ersten Winter in der «neuen Welt» überlebt und langsam in der Massachusetts-Bucht Fuss gefasst hatten. Gemeinsam feierten die Bauern aus Europa und von der «Schildkröteninsel» (so nannten die Native-Americans im Nordosten «Amerika») 1621 ihre Ernteerträge in einem dreitägigen Fest.

 

Jennie Augusta Brownscombe (1850-1936): The First Thanksgiving at Plymouth (1914) [Quelle: wikipedia, 3.12.2010]

Dass diese Tatsache auf Brownscombes Historienbild von 1914 eher im schattigen Hintergrund verschwindet, zeugt davon, dass die «Indianer» dennoch lange nicht zum nationalen Selbstverständnis der «Amerikaner» gerechnet wurden. Zwar kann Ferris berühmtes Historienbild von 1899 als Gegenbeispiel betrachtet werden, allerdings kommt auch dieses Bild nicht ohne ziemlich viele Klischees aus: am Boden sitzende, Essen erhaltende (wofür?) und wie aus den Great-Plains gekleidete «edle, wilde Indianer» entsprechen kaum den Wampanoag von 1621.

 

Jean Leon Gerome Ferris (1863–1930): The First Thanksgiving, 1621 (1899) [Quelle: wikipedia, 3.12.2018]

Auch wenn die zentrale Bedeutung der Wampanoag für dieses «erste» Thanksgiving heutzutage selbst in der Erklärung von Präsident Trump nicht mehr verschwiegen wird wird, bleibt mit Blick auf die darauffolgenden bald vierhundert Jahre «gemeinsamer» Geschichte ein bitterer Nachgeschmack.

 

Demonstration von Native-Americans in Plymouth am 22. November 2018: «We are not vanishing! We are not conquered! We are as strong as ever!» [Quelle: http://plymouth.wickedlocal.com/storyimage/WL/20181127/NEWS/181128032/AR/0/AR-181128032.jpg, 3.12.2018]

Alljährlich an Thanksgiving rufen die «United American Indians of New England UAINE» zu einem nationalen Trauertag in Plymouth auf. 2018 zum 49. Mal. Dies die andere (Nach-)Geschichte zum «ersten» Thanksgiving auf amerikanischem Boden.

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