Im vergangenen Februar führte die Harvard Divinity School (Theologische Fakultät der Harvard University) ihr zweites Filmfestival durch. Neben Dawnland (vgl. Blog «Vergangenheit – eine Bürde»), welcher die Situation der Wabanaki in Maine thematisierte, besuchte ich an diesem Anlass noch einen weiteren Film. Die Regisseurin Kim A. Snyder präsentierte ihren Dokumentarfilm Notes from Dunblane. Lessons From a School Shooting. Der zweiundzwanzigminütige Kurzfilm aus dem Jahr 2018 ist keine leichte Kost. Im Mittelpunkt steht ein katholischer Priester. Robert «Bob» E. Weiss, Seelsorger der Pfarrei «Heilige Rosa von Lima» in Newtown / Connecticut. Weiss stand im Dezember 2012, kurz vor Weihnachten, vor der Aufgabe, in wenigen Tagen acht Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren zu beerdigen. Sie alle waren am 14. Dezember, einem Freitag, zusammen mit zwölf anderen Kindern im selben Alter und sechs Erwachsenen, einer Schiesserei in der Sandy Hook Elementary School zum Opfer gefallen. Der Pfarrer erhält zwei Tage nach der Bluttat eine E-Mail aus Schottland. Der Pfarrer von Dunblane bietet ihm seine Hilfe an. Die Schule von Dunblane war im März 1996 ebenfalls Schauplatz eines Amoklaufs geworden, der das Leben von sechzehn Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren und ihrer Lehrerin gefordert hatte. Es ergibt sich ein Briefwechsel über den Atlantik, der schliesslich in einem Besuch von Father Basil O’Sullivan mündet. Weiss, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, und sein Kollege aus Schottland feiern im Dezember 2013 zusammen mit Angehörigen und Menschen aus der Gemeinde eine Jahrzeitmesse für die Opfer von Sandy Hook. Eine Gemeinschaft, erschüttert duch Leid, Trauer, Fragen, Hoffnungslosigkeit und Entsetzen. Eine Gemeinschaft, die von Medien aus aller Welt bedrängt wird. Eine Gemeinschaft, die zum Auslöser wird für weitere, letztlich wieder erfolglose politische Diskussionen um die Waffengesetze in den USA. Mittendrin ein Priester, der auf sich gestellt mit dieser Situation zu Recht zu kommen versucht. Der Vertrauen und Zuversicht ausstrahlen soll, der professionell sein soll – trotz all seiner eigenen Zweifel, seiner Ohnmacht.
Der kurze Film thematisiert nicht den Ablauf der Tat. Oder die Ursachen der Tat. Auch der gut achtzigminütige Dokumentarfilm Newtown, auf dessen Material Notes from Dunblane. Lessons From a School Shooting basiert, verzichtet darauf. Die Filmemacherin Kim A. Snyder wollte keine reisserischen Bilder oder eine lückenlose Dokumentation der Ereignisse liefern. Lediglich ein State Trooper, der Polizist Bill Cario, macht zu Beginn des Filmes Newtown darüber eine Andeutung: «Niemand von uns, die in der Schule waren hat das Gefühl, dass jemand wirklich wissen muss, was wir genau gesehen haben. Die Menschen sollten verstehen was das bedeutete. Aber dies zeigen, das bringt nichts.»
Stattdessen näherte sich Snyder langsam Familien, welche ihre Kinder verloren hatten. Nachbarn. Freunden. Lehrerinnen. Polizisten. Hausmeistern. Über drei Jahre hinweg führte Snyder Interviews, machte sich mit den Menschen vertraut – und diese sich mit ihr. Ziel war kein Film über ein School Shooting oder über die Frage der Waffengesetze (vgl. Michael Moores mit einem Oscar ausgezeichneten Dokumentarfilm Bowling for Columbine aus dem Jahr 2002, der das School Shooting an der Columbine High School in Littleton / Colorado von 1999 zum Ausgangspunkt hat). Beides schwingt natürlich mit. Zentral war der Filmemacherin, was ein School Shooting mit den Menschen macht. Wie die Einzelnen und eine ganze Gemeinde durch die Ereignisse getroffen werden und wie sie damit umgehen. In den darauffolgenden Tagen, Wochen, Jahren, letztlich bis an ihr Lebensende.
Im Gespräch an der Harvard Divinity School plädierte sie vor allem dafür, sich der Kosten einer solchen Tat bewusst zu werden. Um differenzierter über strengere Waffengesetze in den USA sprechen zu können, brauche es endlich auch mehr Forschung und Datenmaterial zu den gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Waffengewalt. Tausende trügen Verwundungen davon – physisch, aber vor allem auch psychisch: Kinder, die ihre Lehrerin vermissen; Eltern, die nach wie vor auf Glückwunschkarten den Namen ihres getöteten Kindes mitvermerken; Schülerinnen, die Angst vor Klassenzimmern entwickeln; ein Vater, der sich sechs Jahre nach Sandy Hook das Leben nimmt; Überlebende von Columbine 1999, inzwischen selber Eltern schulpflichtiger Kinder, die 2019 mit einem School Shooting acht Meilen von ihrer damaligen High School entfernt konfrontiert werden; ein Pfarrer, der sich selbst in eine Therapie begibt, weil er nicht mehr weiter kann.
Notes from Dunblane. Lessons From a School Shooting – Newtown – Bowling for Columbine. Filme, die unter die Haut gehen. Sie lassen mich nicht kalt, nicht als Lehrer, und schon gar nicht als Vater eines schulpflichtigen Kindes. Auch wenn dies natürlich ziemlich irrational wirkt, hat die Tatsache, dass meine Tochter dieses Jahr eine öffentliche Schule in den USA besucht, die eigene Wahrnehmung verändert. Die Bedrohung wirkt unmittelbarer. Sie lässt sich auch statistisch belegen. Zwar ist die Gefahr, die für das Leben eines Kindes in den USA von einem Auto ausgeht höher (5.21 Todesfälle auf 100’000 Kinder). Und auch Naturkatastrophen sind nicht zu unterschätzen. Aber im Jahr 2016 lag die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit Schusswaffen bei 4.02 Kindern pro 100’000 Kindern. Ein Kind in den USA läuft also weit häufiger als in den meisten anderen hochindustrialisierten Ländern Gefahr, durch eine Schusswaffe getötet zu werden.
Während sich die Zahl der durch Autos getöteten Kinder zwischen 1999 und 2016 beinahe halbierte (von 10 auf 5.21 Kinder pro 100’000 Kinder), zeigte sich in den Zahlen zu den Schusswaffen eine Tendenz nach oben. Strassen wurden den Bedingungen angepasst, Gesetze zur Verkehrssicherheit verschärft. In Bezug auf den Zugang und den Umgang mit Waffen geschah in diesem Zusammenhang nichts. Zwar sind im März 2019 zwei Gesetze im Repräsentantenhaus verabschiedet worden, welche allgemeine und strengere Abklärungen voraussetzen, bevor jemand eine Waffe erwerben kann. Allerdings hatte sich bereits im Repräsentantenhaus ein Graben zwischen den Abgeordneten der Demokratischen und der Republikanischen Partei geöffnet. Lediglich acht republikanische Volksvertreter stimmten für die beiden Vorlagen. Im republikanisch dominierten Senat dürften es diese Verschärfungen dementsprechend schwierig haben. Die aktuelle Regierung hat zwar im vergangenen März ein Verbot für so genannte bump-stocks ausgesprochen, welche es praktisch ermöglicht hatten, eine halbautomatische Waffe in ein Maschinengewehr umzufunktionieren. Dennoch ist von einem Präsidenten, der die Jahresversammlung der National Rifle Association NRA besucht (vgl. Blog «Ein Selbstversuch») und sich als Verteidiger des Second Amendment (also des verfassungsmässigen Rechtes, «eine Waffe zu besitzen und zu tragen», ob als Teil einer Miliz oder nicht ist seit Jahrzehnten umstritten) präsentiert, kaum zu erwarten, dass er weitergehende Schritte zu einer Verschärfung der Waffengesetze unternehmen wird. Bereits wird in den Medien berichtet, dass der Empfänger von elf Millionen Dollar der NRA im Wahlkampf 2016 ein Veto gegen die beiden Gesetze in Betracht zieht.
Im Dezember 2018 hat die Regierung einen Bericht zur Sicherheit an Schulen veröffentlicht. Darin werden Massnahmen zur Verbesserung des Schutzes von Schulen präsentiert, unterteilt in die Bereiche Prävention (Prevention) und Vorbereitung (Preparation). Die Bundeskommission führte im Bereich Prävention Disziplinarmassnahmen wieder ein, die unter der Regierung von Präsident Obama eingeschränkt worden waren, da diese häufig zu einer überproportionalen Diszplinierung nichtweisser SchülerInnen geführt hatten. Im Bereich der Vorbereitung wird Gewicht auf bauliche Massnahmen (kugelsichere Scheiben, gut schliessbare Eingangstüren, Metalldetektoren, Schutzmauern auf dem Schulareal usw.) und auf die Bewaffnung von Mitarbeitern auf dem Schulareal gelegt. Massnahmen im Bereich des Waffenrechts werden dagegen keine genannt. Damit befindet sich die Regierung in einer Sichtweise, die auch nach der Tragödie von Newtown von Gegnern verschärfter Waffengesetze vorgebracht wurden:
«Gun control supporters have the blood of little children on their hands. Federal and state laws combined to insure that no teacher, no administrator, no adult had a gun at the Newtown school where the children were murdered. This tragedy underscores the urgency of getting rid of gun bans in school zones. The only thing accomplished by gun free zones is to insure that mass murderers can slay more before they are finally confronted by someone with a gun.» («An den Händen der Unterstützer einer Waffenkontrolle klebt das Blut dieser kleinen Kinder. Bundes- und Staatsrechte haben dazu beigetragen, dass kein Lehrer, kein Verwaltungsangestellter, kein Erwachsener eine Schusswaffe zur Hand hatte in Newtown als die Kinder ermordet wurden. Diese Tragödie macht deutlich wie wichtig es ist, das Schusswaffenverbot auf Schularealen aufzuheben. Das einzige, was schusswaffenfreie Zonen erreichen ist, dass sie Massenmördern die Sicherheit geben, dass sie dort mehr Leute abschlachten können bevor sie auf jemanden mit einer Waffe stossen.», Quelle: Larry Pratt, Chef der Vereinigung Gun Owners of America, in einem Statement im Dezember 2012, The New York Times, 22.5.2019)
Und so bleibt, was ein Kolumnist des The Boston Globe im Dezember 2018 – sechs Jahre nach Sandy Hook – feststellte:
«In a country where federal officials spent over a year promising to ban bump stock […], teaching high schoolers to patch up their classmates seems to send an unmistakable and terrifying message: You’re on your own.» («In einem Land, in dem es mehr als ein Jahr dauerte, bis bump-stocks verboten wurden […], wird unseren Highschool-SchülerInnen, die nun im Zusammenflicken ihrer KlassenkollegInnen ausgebildet werden, eine unmissverständliche und schreckliche Botschaft abgegeben: Ihr seid auf euch selbst gestellt.» Quelle: The Boston Globe, 22.5.2019)
SchülerInnen werden zu «Combat-Medics» («Kampfsanitätern») ausgebildet. Das Department of Homeland Security (Ministerium für die Innere Sicherheit) bietet Programme an, welche ältere Schülerinnen und Schüler in Blutstillung ausbilden. Der diesjährige Mai wurde zum ersten nationalen «Stop the Bleed Month» erklärt.
Schülerinnen und Schüler legen Steine oder Bälle auf ihren Pulten bereit, um damit mögliche Eindringlinge zu bewerfen oder erhalten Schreibunterlagen, welche auch kugelsicher sein sollen. Kinderbücher («I’m not Scared, I’m Prepared, Because I all Know About ALICE») werden verteilt, um schon die kleinen Kinder in wichtigen Sicherheitsmassnahmen an der Schule auszubilden. Schulhausportale sind während der Unterrichtszeiten von Innen verriegelt, Besucher müssen sich anmelden. Auch an unserer Schule in Cambridge. Und ja, auch meine Tochter durchlief neben einem Fire-Alarm-Drill einen Lockdown-Drill. Türen wurden geschlossen, das Zimmer abgedunkelt, die SchülerInnen mussten ruhig sein und sich in eine schlecht einsehbare Ecke des Zimmers ducken. Damit man in Sicherheit ist, falls mal etwas passiert. Nicht, dass die Lehrerinnen School Shootings im Zusammenhang mit diesem Drill thematisiert hätten. Aber Fragen bleiben. Auch bei meiner Tochter: «Wozu das alles? Wenn wir die Tür absperren, kann ein Räuber ja nicht ins Zimmer! Wieso noch verstecken und abdunkeln?»
Was soll ich antworten?
Die Ausführungen Snyders zu ihren beiden Filmen über das School Shooting in Newtown gehen mir wieder durch den Kopf. Eine Tat wie diese an der Sandy Hooks Schule betrifft tausende von Menschen und verändert ihre Wahrnehmung der Welt. Das Leben geht dennoch weiter. Father Weiss steht im Film sinnbildlich dafür. Und mit dem Leben gehen die Gefahren einher, untrennbar miteinander verknüpft. Kein Gesetz, keine Vorbereitung, kein Drill, kann hundertprozentigen Schutz vor diesen Gefahren schaffen.
Erwachsene hätten aber die Verantwortung, etwas zu tun. Seit den tödlichen Schüssen in Newtown vor sechs Jahren haben in den USA nach einer Statistik von Everytown for Gun Safety weitere 451 Zwischenfälle auf Schularealen stattgefunden, mit 179 Toten (33 davon Suizide) und 350 Verletzten. Erwachsene haben die Verantwortung, Kinder und Jugendlichen nicht sich selbst zu überlassen. Nicht in Bezug auf diese typisch amerikanischen Frage des Waffenbesitzes. Nicht in Bezug auf die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten.
Nachtrag (23. Mai 2019)
Einen Tag nach der Veröffentlichung dieses Blogs am 22. Mai erschien im The Boston Globe ein Artikel auf der Frontseite mit dem Titel «A lesson too well learned. Lockdown drills are meant to save lives, but along the way, fear is invading kids’ play and dreams» («Eine Lektion, die zu gut gelernt wurde. Abschliessübungen sind dazu gedacht Leben zu retten, doch gleichzeitig führen sie zu Angst bei Kindern. In ihren Spielen und ihren Träumen.»). Zwei interessante Passagen aus diesem Artikel – unkommentiert:
«With millions of children subject to stress-inducing drills every year — and school shootings a horrible but relatively rare event — a backlash is building. “Is the trauma of training for a school shooter worth it?” […] an education-focused publication […] asked in 2018. “Do Schools’ Active-Shooter’ Drills Prepare or Frighten?” asked a 2017 story in Education Week.» («Millionen von Kindern sind jedes Jahr dem Stress dieser Drills unterworfen. Gleichzeitig sind School Shootings eine aufs Ganze gesehen seltene Tatsache. Eine Gegenbewegung tut sich auf. “Ist das School Shooter-Training das Trauma wert?”, fragte eine […] Publikation 2018. Eine Studie in der Education Week von 2017 fragte: “Bereiten diese Übungen auf einen Angriff vor oder verursachen sie einfach Angst?”»)
«They say kids his age understand it’s just a drill. But what kids understand is that kids die in school.» (Ein Vater eines Siebtklässlers aus Boston sagte zu Lockdown-Drills: «Sie sagen, dass Kinder im Alter meines Sohnes wissen, dass dies nur eine Übung ist. Aber was die Kinder eigentlich darunter verstehen ist, dass Kinder in den Schulen sterben.»)
Im Februar 2018 wurde auf der Twitter-Seite des March for our lives Boston ein Gedicht einer High School-Schülerin veröffentlicht. Diese USA-weite Protestbewegung von Jugendlichen war nach dem Amoklauf in der Marjory Stoneman Douglas Highschool in Parkland / Florida (14. Februar 2018) entstanden und setzt sich für strengere Waffengesetze ein. Der Titel des Gedichts der Schülerin aus Rockland / Massachusetts:«Bulletproof Teen» («Schussicherer Teen»). Lesenswert. Bedenkenswert. Auch für Erwachsene.