Die offene Tür

East-Cambridge, «mein Quartier» ist durch ein Eisenbahngleis vom Rest der Stadt Cambridge getrennt.

Gleis der Grand Junction Railroad… harmlos und etwas verwahrlost liegt es da und nichts weist auf dessen grosse Geschichte hin

 

Öfters, manchmal mitten in der Nacht, manchmal auch zu unterschiedlichen Tageszeiten hören wir in unserem Haus das Signalhorn eines Zuges. Wer schon einmal einen nordamerikanischen Zug gesehen hat, weiss, dass deren Lokomotiven zwar immer noch ein nostalgisches Glockentönchen erklingen lassen, zumindest in der Langsamfahrt. Das Signalhorn aber ist für weite Prärien geschaffen worden, wo Büffelherden und Räuber das Gleis blockieren könnten: der Ton des Signalhorns geht durch Mark und Bein. Das Horn ist so designt, dass man es auf über eine halbe Meile (also gut 800 Meter) hört. Und da die Lokomotiven bei bestimmten Distanzen vor einem Bahnübergang unterschiedlich lange Signale geben müssen, bleibt es  nicht bei einem einzigen mark-und-bein-erschütternden Hornsignal. Wer sehen (und vor allem auch hören) will, wie so ein Zug quasi durch unseren (um zugegebenermassen um 300 Meter erweiterten) Vorgarten tuckert, kann sich hier einen Eindruck verschaffen. Nun, wie dem auch sei: will ich meine Tochter am Abend zum Schlafen bringen, kann ich nur beten, dass nicht gerade ein Güterzug unterwegs ist oder die MBTA (Massachusetts Bay Transportation Authority) Pendlerzüge verschiebt.

Der Name dieses einen,  ziemlich vernachlässigt und verwaist wirkenden Gleises ist demgegenüber ziemlich überraschend: Grand Junction Railroad. Knapp 14 Kilometer lang ist diese Eisenbahn. Normalspur. In den 1840-er und 1850-er Jahren nach und nach gebaut mit der Absicht, die Nord- und Westeisenbahnen, welche aus Boston herausführen mit einer Art «Ringeisenbahn» zu verknüpfen (eine Junction eben). Damit sollte vor allem der Gütertransport aus den aufstrebenden Industriegebieten im Gürtel um Boston intensifiert werden. Heute, wie obenstehende figura zeigt, wird diese Verknüpfung eher wenig genutzt. Allerdings wird im Zeitalter der Förderung des öffentlichen Verkehrs laut über einen (Wieder-)Ausbau dieser Strecke (sie war schon einmal durchgehend zweispurig) nachgedacht. Nur fehlt – wie fast immer – das Geld und der politische Wille dazu. Die Stadt Cambridge als Standortgemeinde will entlang dieser Gleisbrache zum Beispiel lieber einen grünen Gürtel durch die hektische Stadt bauen mit Bäumen und Spielplätzen.

Zudem verläuft die Eisenbahn auf Strassenniveau, das heisst, es gibt viele Übergänge wo gehornt und gehalten werden muss. Nicht überall gibt es Barrieren und die Strassenverkehrssignale sind nicht mit den Eisenbahnsignalen getaktet. Vor allem im abendlichen Strassenverkehr kommt es so immer wieder zu gefährlichen (und zeitraubenden) Begegnungen zwischen Autos und Zügen.

 

Kreuzung der Grand Junction Railroad mit der Cambridge Street; eine heisse Kontaktzone

 

Und eben auch zu Problemen, wenn man ein Kind ins Bett bringen will…

Aber weshalb ich eigentlich über das Bahngleis der Grand Junction Railroad nachzudenken begann (und was sich nun schon fast zu einem eigenständigen Blogeintrag entwickelt hat), hat mit einer vordergründig ganz anderen Beobachtung zu tun. Lange fragte ich mich nur, woher die Hornsignale stammten. Sicher nicht von diesem verwilderten Schienenstrang! Wenn schon dann von der Eisenbahn, die nach Norden Richtung Maine führt. Ich konnte mir diese Hornerei erst erklären, als ich selbst eine «Lokophanie» hatte. Sprich als mir selbst ein leibhaftiger Güterzug erschien, der über die Cambridge Street tuckerte (und laut hornte). Ab diesem Moment begann ich intuitiv eine Verknüpfung herzustellen zwischen diesem scheinbar doch nicht verwaisten Gleis und der offenen Bustür.

Immer nämlich, wenn unser Bus zur Cello-Stunde zum Bahngleis kommt, stoppt der Bus kurz davor (siehe Markierung am Boden), öffnet die vordere Tür, schliesst sie wieder und setzt seine Fahrt vor. Im Sommer vermutete ich dahinter noch einfach angenehme Launen des jeweiligen Busfahrers oder der jeweiligen Busfahrerin, die uns etwas frische Luft zukommen lassen wollten. Mit zunehmender Kälte und regelmässiger Beobachtung dieses Phänomens aber begann ich darin ein Muster zu sehen. Und tatsächlich: hinter dieser Handlung steckt nicht eine neurotische Zwangshandlung der Buschauffeure und Buschauffeusen der Nummer 69, sondern ein dramatischer Unfall, welcher zu einer Ergänzung der gliedstaatlichen Strassenverkehrsordnungen führte.

Am 1. Dezember 1938, mitten in einem Schneesturm, kollidierten auf einem Bahnübergang in Sandy, im Bundesstaat Utah ein Schulbus und ein fünfzig Wagen umfassender Güterzug. «The Flying Ute» war mit sechzig Meilen pro Stunde (knapp 100 km/h) unterwegs, aber auf Grund des Schneesturms auch um eine Stunde verspätet. Der Busfahrer hatte wie jeden Tag ordnungsgemäss vor dem Bahnübergang gestoppt, konnte aber wegen des Schneesturms nicht viel sehen. Der Schulbus wurde seitlich erfasst und gut achthundert Meter mitgeschleift. Fünfundzwanzig Schüler der Jordan High School und ihr Fahrer wurden getötet. Dies war und ist die schlimmste Katastrophe an einem Bahnübergang in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Als Folge davon wurden in den Bundesstaaten die Verkehrsordnungen angepasst:

Every person operating a school bus or any motor vehicle carrying explosive substances or flammable liquids as cargo, upon approaching a railroad crossing, shall bring his vehicle to a full stop not less than 15 feet and not more than 50 feet from the nearest track of the railroad and shall not proceed to cross until it is safe to do so. [Quelle: Massachusetts AAA Digest of Motor Laws, 17.12.2018]

Seither muss also nicht mehr nur gestoppt und nach einem Zug Ausschau gehalten werden. Eine offene Tür und ein offenes Fenster auf der Fahrerseite sollen auch akkustisch sicher stellen, das sich kein Zug dem Bahnübergang nähert. Eine tragische Geschichte, mit Folgen bis heute.

Safety First! Ich bin froh um den Stopp und die offene Tür. Zumindest seit ich weiss, dass die Grand Junction Railroad immer noch in Betrieb ist. Unregelmässig zwar. Aber wie das Beispiel von 1938 zeigt, liegt gerade darin das gefährliche! Ein kleiner Zweifel bleibt natürlich. Rituale tragen die Gefahr in sich, dass sie zur Gewohnheit werden. Handlungen, welche man gedankenlos abspult. Solange aber die BusfahrerInnen der Nummer 69, die meist froh sind, wenn sie im meist ziemlich dichten Verkehr auf der Cambridge Street ‚mal etwas «auf die Tube drücken» können, immer noch beim Gleis stoppen und die Tür aufmachen, fühle ich mich auf der sicheren Seite als Passagier der «T».

Die offene Tür
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