Keine voreiligen Schlüsse!
Ich bin nicht plötzlich Amerikaner bzw. Bürger der USA geworden. Das wäre doch etwas überraschend schnell gegangen. Zu schnell, wenn man die trumpsche Rhetorik bezüglich der Einschränkung der Immigration in Betracht zieht. Nein, einen dieser berühmten Sticker konnte ich mir nicht an die Jacke kleben und stolz bekunden, dass ich Repräsentanten, Senatorinnen usw. gewählt habe.
Zudem liegen die Midterm-Wahlen schon schon einen Monat zurück. [Klammerbemerkung: Allerdings ist in einem Kongressbezirk im Bundesstaat North-Carolina das Resultat noch offen. Ursache dafür ist ein möglicher Wahlbetrug. Ein Anhänger der Republikanischen Partei steht unter Verdacht, sich Stimmen von Bürgern erschlichen zu haben, die nicht persönlich in die Wahllokale gehen konnten («absentee ballot»). Das ist deshalb pikant, weil die Republikanische Partei und Präsident Trump sowohl während der Midterms 2018 als auch während der allgemeinen Wahlen von 2016 immer wieder Anhängern der Demokratischen Partei «immensen Wahlbetrug» und «gestohlene Wahlen» vorgeworfen hatten – ohne allerdings stichhaltige Beweise dafür zu liefern.]
Dennoch.
«I Voted». Und zwar in Cambridge, Massachusetts, in der Stadt in der wir für ein Jahr leben. Dort sind vom 1. bis zum 7. Dezember alle Einwohnerinnen und Einwohner ab dem zwölften Altersjahr dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Elektronisch oder persönlich.
Maximal 900,000 US-Dollar aus dem städtischen Haushalt werden zum fünften Mal freigestellt für Projekte, welche eine einmalige Investition bedingen und nicht aus anderen laufenden Budgetposten finanziert werden (wie z.B. die Anzahl der Lehrkräfte an den öffentlichen Schulen). In erster Linie handelt es sich dabei um klassische Infrastrukturprojekte. So wurden mit diesem Geld in den vergangenen Jahren Veloreparaturstationen finanziert, zweisprachige Kinderbücher in den städtischen Bibliotheken, Trinkwasserspender auf öffentlichen Kinderspielplätzen, eine öffentliche Toilette im Stadtzentrum, eine Solaranlage auf dem Dach der städtischen Hauptbibliothek, Notpakete für Obdachlose oder sicherere Zebrastreifen an gefährlichen Kreuzungen.
Insgesamt wurden im Mai bis Juli 2018 1,047 Vorschläge aus der Bevölkerung eingereicht, welche im Fiskaljahr 2020 umgesetzt werden sollen. Freiwillige Budgetdelegierte (Mindestalter vierzehn) sichteten, evaluierten und konkretisierten diese 1,047 Vorschläge bis November und legten der Stadtverwaltung schliesslich eine Liste von zwanzig Projekten vor, welche als machbar eingestuft wurden. Nach der Prüfung durch die Behörden werden diese nun den Einwohnerinnen und Einwohnern zur Abstimmung vorgelegt. Diese können maximal fünf Projekten je eine Stimme geben.
Meine Tochter brachte in ihrem Schulmäppchen ein Flugblatt der Stadt mit nach Hause, doppelseitig, einmal in englischer… und einmal in spanischer Sprache.
Einige Tage später fanden wir an der Türfalle unseres Häuschens einen weiteren Wahlaufruf, ebenfalls englisch und spanisch. Die Einwohnerinnen und Einwohner sollen über «echtes Geld» bestimmen für «wirkliche Projekte» und damit «effektiv Macht» ausüben.
Kurzum: es wurde einiger Aufwand betrieben, mich an die Urne zu bringen. Gleichzeitig nahm es mich als «alien», als Ausländer natürlich auch Wunder, ob ich wirklich mitbestimmen kann und welche Hürden ich dazu überwinden muss. Um es kurz zu machen: es war einfach einfach: Internetseite öffnen, Sprache wählen (Englisch – Kreolisch – Spanisch), Name und Mobiltelefonnummer eingeben, auf den SMS-Freischaltungscode warten, einloggen, lesen und auswählen, Stimme abgeben, bestätigen, dass man über zwölf Jahre alt ist. Keine Identitätskarte, keine Aufenthaltsbestätigung oder ähnliches waren verlangt.
Nun warte ich auf die Bekanntgabe des Abstimmungsresultats am 11. Dezember 2018. Ein Schweizer, ein «alien», seit August in Cambridge lebend und dies noch bis Ende Juli 2019, ist beteiligt an diesem Resultat. Das bringt mich ins Grübeln. Grübeln über Demokratie als Herrschaftsform, in der «das Volk» herrscht. Der «demos», das «Staatsvolk» wird hier offensichtlich ziemlich weit gefasst, weiter als es in der überwiegenden Zahl der Gemeinden in der Schweiz der Fall ist. Klar, es geht hier lediglich um 900,000 $ im Jahresbudget, nicht um die Gesetzgebung oder die Bestimmung der Behörden. Diese Handlungen bleiben den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt vorbehalten. Interessant wird auch sein, wieviele Menschen sich letztlich an dieser Abstimmung beteiligen werden. Im Jahr 2015 waren es etwas mehr als 4,000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Stadt Cambridge zählt gut 100,000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Stimmbeteiligung lag also bei etwa vier Prozent wenn man alle Bewohnerinnen und Bewohner egal welchen Alters mit einrechnet. Dies ist wahrlich keine berauschende Zahl.
Dennoch darf ich, ein unbeschriebenes Blatt, über die Vergabe von immerhin 900,000 $ Steuergeldern mitbestimmen. Über 1,000 Vorschläge wurden formuliert, diskutiert, evaluiert. Freiwillige arbeiteten Vorschläge für die Abstimmung aus, rechneten, machten Ortsbesichtigungen, standen in Wahllokalen bereit. Dokumente wurden nicht nur auf Englisch, sondern auch in anderen Sprachen publiziert. Jugendliche wurden zur Mitbestimmung eingeladen. Die Stadt will mit dem ganzen Entscheidungsprozess, d.h. von der Eingabe der Projekte, über die Evaluierung durch Freiwillige bis zur Abstimmung durch einen sehr breit gefassten «demos», eine möglichst inklusive Form der Demokratie kultivieren, welche möglichst vielen Menschen das Gefühl gibt, Teil einer Bürgergesellschaft zu sein. Möglichst niederschwellig sollen die Einwohnerinnen und Einwohner mitbestimmen. Statt schöner Worte über Demokratie und langem Warten, bis man endlich Mitverantwortung in Form von Mitbestimmung übernehmen kann, wird hier auf die Praxis gesetzt. Die Botschaft: Wer hier lebt, trägt Mitverantwortung, darf mitarbeiten (Projekteingabe, Frewilligenarbeit in Gremien) und hat das Recht auf Mitbestimmung. Zwar nur im «kleinen» (falls man 900,000 $ als «klein» bezeichnen will), aber immerhin. Diese Botschaft lässt sich Cambridge einiges kosten. Neben den 900,000 $ wird auch Geld aufgewendet für den gesamten Prozess, die Öffentlichkeitsarbeit und am Ende für die Abstimmung. Der Vertrauensvorschuss soll letztlich – so die Stadtregierung – zu einer stärkeren und gerechteren Zivilgesellschaft beitragen und der Integration dienen:
[…] 4. Create Easy and Seamless Civic Engagement: Enable the community to be involved without barriers or frictions. Create a welcoming space for residents to become engaged, fostering a «contagious» civic environment.
5. Promote Civic-mindedness: Help residents imagine themselves as civic actors and educate each other about their needs and lives. Provide youth with the opportunity and experience to become life-long voters and community leaders. (Quelle: What are the Goals of PB in Cambridge?, 6.12.2018)
Ein interessanter Ansatz, mit seinen Schwächen, aber wohl auch einigen Stärken. I Voted!… und ich grüble weiter!
Nachtrag vom 13. Dezember 2018:
Inzwischen ist die Abstimmung ausgezählt. Ich habe nicht durchwegs «gewonnen», was bei insgesamt zwanzig Projekten ja auch nicht möglich ist. 6,849 Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Cambridge haben am Urnengang teilgenommen. Also gute zwei Prozent mehr als vor drei Jahren (auf die gesamte Einwohnerzahl gerechnet). Das ist immer noch nicht berauschend viel! Aber das Grübeln – auch mit Blick auf die Schweizer Verhältnisse – lässt mich nicht los.