Annette Studer
Rektorin
Liebe Maturi und Maturae
Stellen Sie sich vor, so in vielleicht dreissig Jahren kramen Sie bei sich zu Hause auf dem Estrich herum. Neben Kisten mit Spielzeug und uralten Smartphones stossen Sie auf einen verstaubten Karton mit dem Gerümpel aus Ihrer Kantizeit. Zwischen vergilbten Schulbüchern und kleinen Geschenken Ihrer ersten grossen Liebe ziehen Sie diese Karte hier hervor.

Und auf der Stelle sehen Sie alles wieder vor sich, als wäre es gestern gewesen: Oh ja, die Maturafeier an der KSR. Ich und die Kolleginnen und Kollegen in den Stuhlreihen, alle schon etwas angeheitert und aufgedonnert mit teuren Frisuren und gewagten Gewändern, wie wir sie vorher und nachher nie mehr trugen. Und vorne die Rektorin, Studer hiess sie. In einem gelben Kleid mit Vogelmuster, das wohl zum Sujet der Einladungskarte passen sollte. Und dann ihre endlose Rede. Was erzählte sie noch mal? Na, sie wird uns wohl mit den Vögeln auf der Einladungskarte verglichen haben. Ja, das war es doch! Sagte sie nicht so etwas wie: «Liebe Maturi und Maturae, das Türchen steht offen, Sie sind frei! Breiten Sie Ihre Flügel aus – und heben Sie ab in eine helle, lichterfüllte Zukunft!» Ja, irgendwas Kitschiges in dem Stil. Sie nannte uns «flügge gewordene Küken»: «Fürsorgliche Lehrerinnen und Lehrer haben Sie täglich mit Bildung versorgt, um Sie fit zu machen für diesen Tag, an dem Sie das sichere Nest der KSR verlassen würden: Bei Herrn Schaufelberger haben Sie literarische Erörterungen und philosophische Essays schreiben gelernt, Frau Bayer hat Sie in die Wahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt, Herr Cook in die Humangenetik, Frau Britschgi erklärte Ihnen die Relativitätstheorie und Monsieur Jean les règles du subjonctif. Nun ist es so weit: Sie fliegen aus – manche selbstbewusst und zielstrebig, andere noch ziemlich unsicher, aber auch sie mit viel Luft unter den Flügeln.»
In etwa so redete sie, die Studer. Mässig originelle ornithologische Metaphern waren das, wir unterdrückten ein Gähnen und warteten ungeduldig darauf, endlich unsere Maturazeugnisse in Empfang nehmen zu dürfen. Aber erst mal wurde die Rektorin noch rührseliger: Vielleicht wollten wir ja gar nicht raus aus dem behaglichen Nest, weg von den lieben Lehrerinnen und Lehrern? Vielleicht befürchteten wir Orientierungslosigkeit, gar den Absturz? Darauf faselte sie etwas davon, dass ein Abschied immer auch ein Anfang sei; die Sonne gehe unter, um wieder aufzugehen, und in der Veränderung liege Schönheit. Was für ein Schmarrn! Auch wenn er, zugegeben, unsere Befindlichkeit gar nicht schlecht traf: Wir fühlten uns tatsächlich frei, jung und leicht wie junge Vögel, die das Nest verlassen; euphorisch, dynamisch – und doch auch etwas wehmütig.
Ja, liebe Maturi und Maturae, in etwa so werden Sie sich an den heutigen Abend erinnern, in dreissig Jahren, dort auf Ihrem Estrich, zwischen den verstaubten Kisten. Aber Erinnerungen sind trügerisch. Sie sind flüchtig und flatterhaft. Wie junge Vögel entweichen sie unserem Gedächtnis, das viel zu klein für sie alle ist und das hauptsächlich aus Lücken besteht. Nein, liebe Maturi und Maturae, meine Rede heute Abend ist viel origineller, als Sie sie in dreissig Jahren in Erinnerung haben werden. Das haben Sie auch verdient, Sie haben immerhin die Kanti absolviert und die Matura bestanden! In Ihrer Zeit an der KSR haben Sie sich in fast 8000 Lektionen Wissen angeeignet, weit über 500 Prüfungen geschrieben, Hunderte Seiten Aufsätze verfasst, Tausende Vokabeln gebüffelt, historische Zusammenhänge von der Frühzeit bis in die Gegenwart begriffen, mit allerlei Zahlen jongliert, physikalische und chemische Formeln auswendig gelernt und in den letzten Wochen schliesslich in insgesamt 22 Fächern Maturaprüfungen abgelegt.
Nun sind Sie tatsächlich bereit, das Nest zu verlassen. Breiten Sie Ihre Flügel aus, heben Sie ab! Sie starten von einem sehr hohen Niveau – schwingen Sie sich nun auf in noch viel grössere Höhen, einer lichterfüllten Zukunft entgegen. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug! Oh, und wenn Sie so in dreissig Jahren diese Karte aus dem Karton ziehen, dann hoffe ich, dass Ihnen die Erinnerungen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern – wenn schon nicht jene an meine Rede, dann wenigstens jene an die Kantizeit insgesamt und jene an den restlichen heutigen Abend, zu dem ich Ihnen nun viel Vergnügen wünsche!