
«Maturitas» bedeutet «Reife». Shakespeare hielt einst fest: «Ripeness is all». Wie ein gereifter Apfel, der vom Baum fällt, verlassen Sie nun die Kantonsschule Reussbühl, um in einen neuen Lebensabschnitt zu treten. Reife ist aber auch stets mit überwundenem Leid verbunden. Sie mussten in den letzten Jahren regelmässig für Prüfungen lernen, egal wie schön das Wetter war und wie sehr das Schwimmbad lockte. Oder sie mussten sich mit Fächern auseinandersetzen, die Ihnen nicht besonders lagen. Doch nach Ihrem mehrjährigen gymnasialen Reifungsprozess können Sie nun beispielsweise an einer Universität ein Fach wählen, das Sie besonders interessiert. Oder Sie gehen zunächst auf eine Reise, um neue Kulturen kennen zu lernen.
Wie auch immer. Zwei Dinge möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Erweitern Sie erstens Ihr Allgemeinwissen weiterhin und nähren Sie auch einige Ihrer Talente, die künftig nicht direkt mit Ihrer Weiterbildung zu tun haben. Denn in der Diversität der Welt schadet es nie, gelegentlich über den eigenen Horizont hinauszublicken. Und versuchen Sie zweitens als Spezialistinnen und Spezialisten auf Ihrem künftigen Fachgebiet auch immer der Allgemeinheit etwas zurückzugeben. Denn die Gesellschaft, die Ihnen Ihre Ausbildung ermöglicht hat, kann nur gesund funktionieren, wenn sich alle mit ihren besten Fähigkeiten hin und wieder für sie engagieren. Dazu möchte ich zwei Beispiele bringen, wofür ich Sie auf eine kurze Reise in den kanadischen Norden, wo indigene Gemeinschaften leben, einlade. […] Für mein letztes Buchprojekt bin ich mit einem Kleinflugzeug in einige ihrer Dörfer unterhalb der Hudson Bay gereist, um vor Ort mehr über ihre Kultur zu erfahren. […]

Eine meiner ersten Begegnungen im für mich unbekannten Teil Kanadas hatte ich mit Edmund Metatawabin, einem Chief einer Cree First Nation. Ich stellte mich als Historiker aus der Schweiz vor, der zur Geschichte der Indigenen im Norden Kanadas forschen möchte. Er musterte mich und sprach: «So du bist ein Wissenschafter. Weisst du, alle Wissenschaftler, die im letzten Jahrhundert zu uns kamen, haben uns geschadet. Theologen meinten, wir hätten keine Religion und müssten missioniert werden. Philosophen glaubten, wir seien auf einer unteren Entwicklungsstufe und müssten zivilisiert werden. Historiker erkannten unsere Geschichte nicht an. Geologen suchten nach Gold und Bodenschätzen, nur um uns später das Land wegzunehmen. Anthropologen untersuchten uns und dachten, wir seien eine aussterbende Rasse und man könne uns umsiedeln. Ingenieure haben mit Staumauern unser Land überflutet und unsere Flüsse umgeleitet. Siehst du diesen Baum? Wir brauchen keine Wissenschaft, um zu wissen, dass er beseelt ist.» Das ist eingefahren. Und ich merkte, ich muss jetzt den Wissenschaftler ablegen und den Indigenen als Mensch begegnen. Als ich ihnen erzählte, dass ich in der Feuerwehr bin und auch Gitarre spiele, haben sie mir ihr Feuerwehrlokal gezeigt und mich eingeladen, mit ihnen zu musizieren. Schon bald wurde mir eine herzliche Gastfreundschaft entgegengebracht, wie ich sie noch nie erlebte. Die Menschen haben mich aufs Land mitgenommen und mir gezeigt, wie man traditionell jagt und fischt.